„Jetzt bin ich natürlich umso entschlossener, ihn zu finden“, entgegnete er und blickte die beiden hoffnungsvoll an.
„Dann soll es so sein“, schloss Arjun lächelnd, „übermorgen brechen wir auf.“
Nach einem weiteren gut dreiviertelstündigen Stromausfall, währenddem seine Gastgeber zahlreiche Kerzen im Zimmer entzündet hatten, begann Manisha mit ersten vorsichtigen Fragen zu Pauls Arbeit und freute sich, wie bereitwillig und gern er Auskunft darüber gab. Sie fasste sich ein Herz und fragte schließlich nach allem, wovon sie sich insgeheim vorgenommen hatte, es in Erfahrung zu bringen. Paul freute sich über ihr Interesse und so drehte sich das folgende Gespräch – in dem Manisha auch zusehends mehr von ihrer Familie und ihrem Engagement in der Fraueninitiative preisgab – hauptsächlich um Pauls psychologische Studien. Auch die universitäre Ausbildung in Deutschland wurde angesprochen. Manisha blickte ihn an dieser Stelle mit großen Augen an. Sie hatte zwar bereits davon gehört, dass sie allen Frauen und Männern, gleich welcher sozialen Schicht, frei zugänglich war, doch hatte sie das bislang nicht glauben können.
Ob die Möglichkeit bestünde, vielleicht auch sein Werk irgendwann lesen zu dürfen, konnte Paul allerdings nicht beantworten. Seine Verlegerin hatte sich zu diesem Punkt bislang eher zurückhaltend geäußert. Vielleicht würde sie der Erfolg des Buches ja davon überzeugen, doch eine Übersetzung ins Englische in die Wege zu leiten.
Paul versprach jedenfalls fest, sollte es tatsächlich dazu kommen, Manisha ein Exemplar mit persönlicher Widmung zu schicken.
Eine Stunde vor Mitternacht unterbrach Arjun liebevoll den Redefluss seiner Frau, da die Zeit gekommen war, Paul noch auf das Dach des Wohnhauses zu entführen.
„Kommen Sie nur, mein Freund“, kündigte er verheißungsvoll an, während sie die Treppen zum obersten Geschoss hochstiegen. „Heute ist die erste, klare Frühlingsnacht in unserem Tal und die Chancen stehen nicht schlecht, ein seltenes Schauspiel zu erleben.“
Am Flachdach des fünfstöckigen Wohnhauses angekommen konnte Paul seinen Augen kaum trauen. Über Hunderten von Dächern schwebten zart beleuchtete Flugdrachen und boten ein tänzelndes, buntes Lichterspiel, das die darunter funkelnd erleuchtete Metropole spiegelte. Nach einer Weile, in der Arjun seine Frau umarmt hielt und die drei schweigend die Szenerie betrachteten, erklärte er: „Dieser Brauch gehört eigentlich zu einem unserer großen Feste, dem Dashain , das üblicherweise im Oktober stattfindet. Dabei wird fünfzehn Tage lang der Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Vor wenigen Jahren hat jemand damit begonnen, die Drachen auch in der ersten, warmen Frühlingsnacht steigen zu lassen, und andere haben es ihm gleichgetan. Es gibt uns das Gefühl, über den Dächern unseres beengten Alltags ein kleines Stück mehr an Freiheit zu erhaschen.
Und es ist nie ganz sicher, welche Nacht es tatsächlich sein wird. Sie haben großes Glück, mein Freund“, er sah Paul mit schmalen Augen lächelnd, verschmitzt an, „und ich denke, die Zeichen deuten darauf hin, dass unser Abenteuer unter einem guten Stern steht.“
Als Paul eine Stunde später sein Zimmer betrat, brachen jedoch unversehens wieder Zweifel und Furcht über ihn herein.
So sehr ihn der Abend berührt hatte und es ihm schien, als wäre er bei alten Freunden zu Besuch gewesen, erschreckten ihn jetzt, umgeben von der kargen, farblosen Einrichtung, die vielen fremden Geräusche, Gerüche und das Fehlen jeglicher Vertrautheit.
Diese Kultur war in ausnahmslos jedem Detail so ganz anders als alles, was er zuvor erlebt hatte. Seine Sinne waren überflutet von Tausenden kleinen Eindrücken, die sich nicht einordnen ließen. Was übrig blieb, war ein Gefühl der Ohnmacht und Einsamkeit.
Am liebsten hätte er seine Sachen gepackt, ein Taxi gerufen, sich zum Flughafen aufgemacht und die nächste Maschine Richtung Heimat genommen.
Er setzte sich vornübergebeugt auf die Bettkante und stürzte sein Gesicht in die Hände. An der Grenze zur Verzweiflung erstarrte er förmlich.
Zwischen den Fingern fiel sein Blick auf den Shila, dessen goldener Einschluss gerade von einem Lichtstrahl, der durch eines der Vorhanglöcher ins Zimmer drang, hell erleuchtet schimmerte.
Er hob erstaunt den Kopf und verharrte so einige Augenblicke in die Betrachtung des Steines versunken.
Erst wenn objektiv sinnvolle Entscheidungen durch Synchronizitäten bestätigt werden, erweist sich ein Lebensweg als der richtige.
Der kleine Lichtstrahl reichte aus, um Paul tief zu berühren. Er dachte an Manishas Bericht und erinnerte sich an das Bild, das er vor sich sah, als sie von der alten nepalesischen Meisterin erzählte.
Bei dem Gedanken an die, in seiner Vorstellung, erleuchtete Gestalt hellte sich seine Stimmung plötzlich auf. Als würde der Lichtstrahl, der auf den Shila traf, bis in sein Herz reichen, ging mit einem Mal eine Leichtigkeit von seiner Mitte aus, die er sich nicht erklären konnte.
Eine Träne lief über seine Wange. Er wischte sich über die Augen, erhob sich und stand für eine Weile völlig aufrecht da. Der leichte Zustand breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Er fühlte nichts Bestimmtes und war doch zugleich von einer liebevollen Klarheit durchflutet, die ihm jede Furcht nahm und ihn sanft, wie von Flügeln umarmt, aus sich selbst heraus behütet trug. Etwas Ähnliches hatte er nie zuvor erlebt. Er hielt einfach still und genoss den Zustand.
Auch später noch, nachdem er sein Gewand abgestreift, die Zähne mit Mineralwasser geputzt und den Mund mit Whisky gespült hatte, hielt die Ruhe in seinem Inneren an.
Er kroch unter die Bettdecke und schlief bald darauf frei von Zweifeln friedlich ein.
Am darauffolgenden Tag zogen die fremden Eindrücke der über siebenhunderttausend Einwohner zählenden Metropole an Paul vorbei.
An der Seite von Arjun besuchte er Swayambhunath , den großen Tempelkomplex im westlichen Stadtteil, der zugleich eine buddhistische und hinduistische Heiligenstätte war. Auf einem Hügel gelegen, galt die Anlage als eines der ältesten religiösen Bauwerke der Welt. Das Alter der inneren Heiligtümer, im besonderen der Stupa, die mit ihren zwei Türmen von nahezu ganz Kathmandu aus zu sehen war, wurde auf über zweieinhalbtausend Jahre geschätzt.
Bevor Paul jedoch die Treppe zum Tempel emporstieg, die, wie Arjun ihm erklärte, ebenso viele Stufen wie ein Jahr Tage hatte, bewunderte er an ihrem Fuße auf einer Steinplatte die Fußabdrücke Buddhas.
Im Inneren des Tempels traf er auf Hunderte Gläubige, die in traditionellen Ritualen mit monotonem Gesang im Gebet versunken ihre Religion praktizierten. Die Verankerung der Bevölkerung mit ihrem Glauben schien Paul auf geradezu beängstigende Weise intakt. Schrieb er doch jeder Form der Abhängigkeit von religiöser Verklärung eine proportional entgegengesetzte Entwicklung des individuellen Bewusstseins und der Eigenverantwortung zu. Während seines weiteren, ausgedehnten Rundgangs durch die Anlage verschenkte Paul zahllose Ein-Dollar-Scheine an völlig verarmte Ausgestoßene, die ihn immer wieder um Almosen bettelnd umlagerten.
Nicht minder staunte er über die vielen Affen, die den Touristen verspielt und frech ihre Lunchpakete stahlen. Aufgrund der großen Population der drolligen Säugetiere war der Anlage auch der Beiname Affentempel verliehen worden.
Am Rückweg ins Stadtzentrum erlebte Paul am Ufer des Bagmati , einem Fluss, der durch die Stadt dem Ganges zuströmte, eine weitere Szene des ihm so fremden gesellschaftlichen Kodex: die öffentliche Beisetzung eines Verstorbenen. Von Angehörigen auf einen flachen, rechteckigen Scheiterhaufen gebettet und mit nassem Stroh bedeckt, wurde der Körper unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger verbrannt. Danach wurde seine Asche in den Fluss gekehrt.
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