Nachdem Arjun jedoch keine Anstalten machte, mehr zu verraten, entschied er sich, bis zum Abend auszuhalten und den liebenswerten Nepalesen nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen.
Das Zimmer in dem kleinen Hotel erwies sich für Pauls Begriffe viel mehr als heruntergekommen, denn als hübsch . Nach dem Durchqueren der letzten Innenstadtgassen mit ihren zahlreichen, verfallenen Häusern und Holzkonstrukten, die brüchige Balkone und Vordächer mehr schlecht als recht stützten, war ihm jedoch klar geworden, dass Arjun im vereinbarten Rahmen das Bestmögliche für ihn ausgewählt hatte. Die Zimmerpreise in den Touristenvierteln lagen im Vergleich zu den Vororten der Stadt unverschämt hoch. Immerhin boten sie den Mindeststandard an Hygiene sowie Badezimmer mit eigenen Toiletten und Duschen. Dennoch empfand Paul gleich beim Betreten des Raumes das düstere, durch löchrige Vorhänge fallende Licht, den abgetretenen Teppich und die mattroten, teils abgeschabten Tapeten als schlichtweg erdrückend. Er lehnte seinen Rucksack an eine Wand nahe dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Der Ausblick auf einen Hinterhof aus braun verwaschenen Backsteinwänden trug ebenso wenig zu seiner Erheiterung bei. Er öffnete den Trolley, bewaffnete sich mit einem seiner Ersatzschuhe und machte sich auf die Suche nach den von Arjun beiläufig angekündigten Kakerlaken.
Zum Glück hielt das Zimmer, was an Hygiene versprochen war, und so konnte er nach einigen Minuten der Pirsch den Schuh beruhigt wieder an seinem Platz verstauen. Auch das frisch bezogene Bett mit Doppelpolstern erwies sich beim ersten Sitztest als überraschend komfortabel. Nachdem er sein Necessaire ins Bad getragen und die wenigen Bekleidungsstücke für die ersten Tage in der Stadt im schlichten Holzschrank verstaut hatte, positionierte er das Shaligrama behutsam auf dem Nachtkästchen. Er zog die Vorhänge wieder zu, legte sich aufs Bett und schlief, noch während er Zweifel daran hegte, ob er sich würde entspannen können, verblüffend schnell ein.
Als er erwachte, war das Zimmer in völlige Dunkelheit getaucht. Noch im Halbschlaf schreckte er verwirrt hoch und suchte orientierungslos nach einem Lichtschalter, den er schließlich neben dem Bett ertastete. Auch nach mehrmaligem Betätigen ließ sich das Licht jedoch nicht einschalten. Er tappte zum Fenster, öffnete abermals die Vorhänge und konnte so zumindest durch das spärlich einfallende Abendlicht die Tageszeit sowie die Umrisse der Möbel in seinem Zimmer erahnen. Plötzlich ging das Licht an und Paul erschrak ob der plötzlich einsetzenden Helligkeit, die eine große Deckenleuchte im Raum verströmte.
Es klopfte an der Zimmertür und er vernahm Arjuns Stimme, der seinen Namen rief.
Erst da wurde ihm bewusst, dass er noch immer seine Reisebekleidung trug. Er fuhr sich verstört durch die Haare, bemühte sich, den Schlaf aus den Augen zu reiben, und ging zur Tür. Arjun stand lachend davor, deutete auf seine Armbanduhr und sagte gelassen: „Wir waren vor einer halben Stunde an der Rezeption verabredet.“
„Das muss Sie nicht verwundern“, erklärte Arjun bei der Fahrt im verbeulten Fiat zu seiner Wohnung in einen der Zwischenbezirke. „Das Licht fällt regelmäßig aus. Wie auch überhaupt alles, was am Stromnetz hängt. Wir können in Nepal einfach nicht genug Strom produzieren. Also hat die Regierung beschlossen, statt die Energie nur wenigen Menschen durchgehend zur Verfügung zu stellen, sie allen zukommen zu lassen, dafür aber nur die halbe Zeit. Es ist also ratsam, sich mit einer guten Taschenlampe auszustatten. Wenn Sie wollen, können wir noch in der Agentur vorbeifahren, dort sind einige für die Touren gelagert.“
„Danke“, erwiderte Paul lächelnd und musste an den Abend bei Carl denken, „aber ich bin eigentlich ganz gut ausgerüstet. Man hat mich vor meiner Abreise nicht nur mit unzähligen Ratschlägen, sondern auch mit unentbehrlichen Utensilien versorgt.“ Er grinste. „Darunter befinden sich auch eine ultramoderne Stirnlampe und mindestens hundert Batterien.“ „Das ist perfekt“, entgegnete Arjun entspannt, „die werden Sie bestimmt auch brauchen. Denn spätestens über viertausend Meter gibt es so gut wie gar keinen Strom mehr.“
Manisha, Arjuns junge Frau, empfing die beiden an der Wohnungstür. In einen orangeroten Sari gekleidet, der den dunklen Teint ihrer Haut bezaubernd umrahmte, kam sie der Umarmung ihres Mannes entgegen. Die Natürlichkeit ihrer Bewegungen unterstrich ihr herzliches Wesen. Auf der Stirn trug sie einen Bindi, den mit Pulverfarbe aufgemalten Segenspunkt, der das dritte Auge symbolisiert und als Zeichen der verheirateten Hindufrau gilt.
Als sie so neben ihrem Mann stand, empfand Paul die beiden als perfektes Paar. Mit einem Lächeln verbeugte sie sich im üblichen Ritual vor Paul und geleitete ihn höflich in den schlicht eingerichteten, überschaubaren Wohnraum, der zugleich als Esszimmer diente.
Sie hatte ein köstliches Abendessen aus Lammfleisch und Gemüse zubereitet, das mit Koriander, Nelken, Ingwer und zerlassener Yakbutter gewürzt war. Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht aus Linsen und Reis, durfte an Pauls erstem Abend natürlich auch nicht fehlen.
Aus reicher Erfahrung mit seinen Klienten servierte Arjun vorsichtshalber einen Whisky als Aperitif.
„Ich weiß schon, wie empfindlich mitteleuropäische Mägen sind und wir wollen doch den Beginn unserer Tour nicht unnötig verzögern“, bemerkte er schmunzelnd.
Nach dem Essen, bei dem sich das Gespräch vorwiegend um allgemeine Fragen zu Pauls Anreise sowie um das Leben in Köln und Nepal drehte, erkundigte sich Manisha schließlich vorsichtig nach seinem Plan, die Tempelschule zu suchen. Paul, der auf einen solchen Anstoß gehofft hatte, erklärte seine Absichten, erwähnte auch den Shaligram Shila und erzählte von Lenas Bruder und dessen Erlebnis.
„In meiner Frauengruppe – wir kümmern uns um die Ausgestoßenen , die Ärmsten der Armen aus den untersten Kasten“, begann Manisha in erstaunlich gutem Englisch, das sie via Fernkurs erlernt hatte, „gibt es eine Krankenschwester, deren Mutter angeblich vor vielen Jahren als eine der Meisterinnen in der Schule unterrichtet hat. Diese Frau soll für über ein Jahrhundert die einzige nepalesische Lehrerin gewesen sein, der jemals diese Ehre zuteil wurde. Wie Schwester Ramchandra mir berichten konnte, werden der Ort und das heilige Wissen der Schule noch immer behütet. Einer alten Prophezeiung nach bricht die Zeit für das Bekanntwerden der Lehren in der menschlichen Gesellschaft erst in diesem Jahrzehnt an.“ Sie stockte und fragte schüchtern: „Ich weiß nicht, erkläre ich das verständlich?“
„Durchaus, ja, erzählen Sie nur weiter bitte“, ermunterte sie Paul aufgeregt und berührt von ihrem scheuen, doch so ehrlichen Wesen.
„So viel mehr weiß ich leider gar nicht. Auch Ramchandras Mutter war zur Geheimhaltung verpflichtet und hat bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich für immer in die Berge zurückzog, niemals den Standort des Tempels preisgegeben. Ramchandra hat ihre Mutter seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen und konnte mir nur die wenigen Anhaltspunkte geben, die ihr selbst in Erinnerung geblieben waren. Ihre Mutter hatte sie nämlich in der Kindheit das eine oder andere Mal zum Tempel mitgenommen. Das liegt jetzt allerdings schon beinahe dreißig Jahre zurück. Arjun hat sich dann aber mit Ramchandra getroffen.“ Sie blickte ihren Mann auffordernd an, das Gespräch zu übernehmen.
„Und ich habe aus ihren Schilderungen“, nahm dieser den Faden bereitwillig auf, „eine mögliche Route Richtung Annapurna bestimmen können, der wir – sofern Sie, lieber Paul, weiterhin darauf bestehen – folgen werden.“
Paul war euphorisch. Manishas Bericht erbrachte den ersten, stichhaltigen Beweis für die Existenz des Tempels.
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