Individualität und das Nebeneinander verschiedener Standpunkte bildet daher nicht von ungefähr den Kern der modernen Lebensauffassung. Traditionelles Leben hingegen geht davon aus, dass sich Kollektive und Einzelne den Gegebenheiten unterwerfen. Dort ist das Leben ein Imperativ, kein Konjunktiv. Gefühle spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Die leidenschaftliche Liebe, jene sozusagen ultimative Selbstermächtigung des Individuums im Geist der europäischen Aufklärung und Romantik, besitzt in Gesellschaften, in denen der Einzelne den elementaren Kräften der Tradition ausgeliefert ist, keinen vergleichbaren Platz.
»Als ich nach Deutschland kam, fiel mir als erstes auf, wie frei die Menschen hier sind. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Und wie tolerant. Es schert niemanden, was eine Frau tut. Ich dachte, das ist das Paradies. Mittlerweile habe ich natürlich gelernt, auch hier gibt es Einschränkungen. Aber das sind andere und die sind beileibe nicht so gravierend für eine Frau wie in einer türkischen Kleinstadt. Hier darf ich meinen Gefühlen nachgeben und leben, wie ich will, auch wenn es meiner Familie vielleicht nicht passt.«
Ambivalenzen und Entwicklungen erzeugen aber hier wie dort widersprüchliche Bedürfnisse. Das beschert uns schwierige Aufgaben. Zur Erhaltung unseres Seelenheils sind wir angehalten, uns den Gegensätzen zu stellen, müssen ständig entscheiden, ob mal mehr das eine, mal das andere zu bevorzugen ist und ob eventuell beides zu seinem Recht kommen darf. Aus Unterschieden entstehen zwangsläufig Spannungen, aber Widersprüche dürfen auch nicht zu groß werden. Sonst gefährdet es das persönliche Gleichgewicht und die Ausgewogenheit der Beziehung. Gegensätze verlangen immer auch nach Kompromissen, die für Ausgleich sorgen. Die vordringliche Aufgabe jedes Einzelnen, jeder Beziehung und Funktion jeder Kultur ist es daher, den natürlichen Kontrast zwischen Erhaltung und Veränderung, zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit wieder erneut in ein passendes Verhältnis zu setzen.
Selbstverständlich darf man dennoch leidenschaftlich für eine Sache eintreten oder anderes genau so vehement ablehnen. Dafür, dass die Ordnung der Dinge nicht aus dem Lot gerät oder beliebig sortiert wird und nicht jede Situation neu ausgefochten werden muss, sorgt Moral. Moral definiert die Grenze zwischen dem, was geht und verlangt ist, und dem, was ausgeschlossen ist und nicht sein soll. Reicht das nicht aus, um uns in verträglichen Bahnen zu halten, muss das begangene Unrecht nachträglich gesühnt werden und darf man erlittenes Unrecht auch verzeihen. Entsprechende Institutionen und Autoritäten setzen sich für eine konsequente Umsetzung verbindlicher Lebensregeln ein und ahnden, wenn es sein muss, Verstöße. Mehr kann eine Gesellschaft nicht tun, so ist es für Konflikte und Krisen wenigstens gedacht und muss für unsere Zwecke nicht weiter hinterfragt werden.
Da trotzdem die jeweils vorgegebene öffentliche Ordnung zu beachten und es erforderlich ist, genügend Selbstkontrolle aufzubringen, fällt es jedem Menschen schwer, sich manchen Tatsachen des Lebens zu beugen. Das Undisziplinierte, Aufsässige und ein gewisses Maß an Intoleranz wohnt in uns allen. Das darf an dieser Stelle deshalb auch vernachlässigt werden.
Ich möchte aber im Zusammenhang von Ambivalenz und Moral unbedingt eine Einstellung ansprechen, die in der Liebe gerne als radikal integer beziehungsweise kerzengerade missverstanden wird. Es geht um die häufig beobachtbare menschliche Eigenschaft, Freiheit und Wahrheit in Absolutheitskategorien zu beanspruchen. Mit unerbittlicher Härte gegen andere Menschen anzugehen, die sich so pauschal nicht festlegen können, zweifeln und zögern, die unbedarft vorgehen oder einfach nur weniger kategorisch auftreten, besitzt, so paradox es auf den ersten Blick klingt, eine leidenschaftslose Qualität.
Leidenschaft ist die Kraft und der Prozess, der menschlichen Wandel bewirkt. Das setzt allerdings voraus, dass man etwas mit sich passieren lassen kann, das bisher nicht zum eigenen Repertoire gehörte, oder zumindest etwas überwinden will, das bisher wie selbstverständlich bestanden hat. Für Letzteres, so glauben kompromisslose Menschen, würden sie sich einsetzen. Meiner Meinung nach immunisieren sich die Kompromisslosen aber mehr gegen eigene Untiefen und Schwächen. Anders ausgedrückt: Sie fürchten die Abhängigkeit von komplizierten und diffusen Umständen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, und sie verweigern Anpassungsleistungen, die ihnen aufgezwungen werden könnten.
Unerbittliche Menschen sind nicht im Besitz von unwiderlegbaren Gewissheiten oder gar ohne Zweifel. Sie sind auch nicht wirklich überzeugender oder weniger korrumpierbar als andere. In erster Linie sind sie starr und damit nach heutigen Maßstäben intolerant, unfähig, eine Beziehung von gleich zu gleich einzugehen.
Henry Roth beschreibt diese Starrköpfigkeit in einer Episode seines Romans Der Amerikaner. (Roth 2011) Zwei Männer fahren durch die Vereinigten Staaten. Wir schreiben den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der eine, ein kommunistischer Werftarbeiter, der vordergründig Aktivere und Ältere von beiden, sieht jede Begebenheit auf der Fahrt durch eine Brille, die nur richtig und falsch kennt. Richtig ist für ihn eine Frage der Herkunft und des eigenen Wesens. Der Jüngere, ein jüdischer Schriftsteller, unerwachsen und zaudernd, ist den neidvollen Abwertungen seines Freundes hilflos ausgesetzt. Er kann sich nicht gegen ihn wehren. Da ist kein argumentativer Spielraum. Er kann ihm auch nicht entgegen kommen, denn sein Wankelmut verstärkt nur das aggressive Misstrauen des anderen. Es bleibt ihm nur, zunächst von so viel Eindeutigkeit angezogen, später zunehmend verängstigt, irritiert zu beobachten, wie der konsequente Freund nicht leben kann ohne die Projektion einer schuldhaften Welt und wie dieser sich immer tiefer in die Verlogenheit seines nimmermüden Stolzes verstrickt. Um finanziell zu überleben, pumpt er dennoch dauernd die an, die er kritisiert. Schließlich wendet sich der Jüngere ab. Zu gehen ist das Einzige, was ihm übrig bleibt, und seine darüber einsetzenden Schuldge fühle sind der emotionale Nachhall, der die fehlgeschlagene Beziehung noch eine Weile überdauert.
Ausgeprägter Starrsinn ist Ausdruck einer unsicheren Persönlichkeit, unfähig zu empathischer Vermittlung und nicht bereit, die vielfältigen Erscheinungen und Widersprüche des Lebens hinzunehmen. Das entfaltet im Widerstand gegen das Ungute seinen Reiz, und deshalb fällt es oft nicht auf, wie unbescheiden und lieblos, ja geradezu verrückt diese Haltung ist. Lieblose Starre, wenn sie für das übergeordnete Bessere eintritt, kann sich lange hinter der guten Absicht tarnen.
Spätestens wenn es um die Bewältigung leidenschaftlicher Konflikte und Beziehungskrisen geht, bringt diese Haltung einen nicht mehr weiter. Dann entpuppt sich ein solches Gegenüber als Einfaltspinsel oder rachsüchtiger Tyrann. Das Beharren und Durchsetzen eindimensionaler Wahrheiten führt ja nicht zur Abwesenheit einer anderen Möglichkeit, Verbote nicht zur Stilllegung von Ambivalenz, sondern nur zu einer armseligen Realität, die nicht aus der Unterdrückung herausfindet.
Mitsingen, unterwerfen oder sich entfernen – mehr lässt eine Beziehung ohne Konjunktiv und Schwächen letztendlich nicht zu.
Einseitigen Menschen fehlt es an einem Verständnis für das Relative, die Brechungen des Lebens und das Vorübergehende. Ihr blinder Fleck ist das Sowohl-als-Auch. Ohne die Bereitschaft, im Miteinander Kompromisse einzugehen und sich selbst infrage zu stellen, kommt ein Liebespaar nicht über die erste Hürde hinweg. Das Zuhause der Liebe will ohne Angst und Abwertung bleiben. Theodor W. Adorno, der die Philosophie klassisch auslegte als Lehre des richtigen Lebens, arbeitete entlang dieser Überzeugung. So ist auch sein berühmter Satz zu verstehen: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu produzieren.« (Adorno 2002)
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