Nun hat Olav sie unverhofft ganz für sich allein. Ein Geschenk des Himmels, sagt er sich, obwohl er an den Himmel noch niemals geglaubt hat. Jetzt schon eher.
Zufällig stehe ich mit meinem Auto unweit entfernt und erlebe die Szene mit, sehe, wie Olav sich Agnieszka mit Schritten nähert, die mich ihres Vor und Zurück wegen an einen Balletttänzer erinnern. Ich wüsste gerne, was er ihr jetzt sagt, als sie sich ihm unentschlossen und wohl noch leicht verärgert wegen des abgefahrenen Busses zuwendet. Eine junge Frau und ein gealterter Zausel auf dem Parkplatz vor Rewe, das wäre für sich betrachtet nichts Besonderes, in diesem Fall jedoch geht es, zumindest für Olav, um alles oder nichts. Davon habe ich im Augenblick verständlicherweise keine Ahnung. Ich sehe nur Olav, wie ihn wohl keiner hier kennt, nämlich mit einem charmanten Lächeln und einer Frau, die etwas schwankt zwischen Was’n-das-für-Einer und einer aufgenötigten Freundlichkeit, weil er ihr vielleicht versprochen hat, sie nach Hause zu bringen. Und wirklich steigt sie in seinen klapprigen Kleintransporter ein und Olav – ich traue meinen Augen immer weniger – hält ihr sogar die Tür auf. Der in Polen übliche Handkuss würde das Bild sicher noch passend abrunden, unterbleibt immerhin.
Sie spricht kein einziges Wort Deutsch. Daher haben Olavs Versuche, mit ihr auf dieser höchstens zehnminütigen Fahrt ins Gespräch zu kommen, keinen Erfolg. So nah und trotzdem erfolglos leidet er ein bisschen. Sie sitzt aufrecht und stumm neben ihm, ein einziges Mal nur lächelt sie kurz. Aber als sie dann vor dem Wohncontainer stehen, sagt sie nicht nur artig Dziękuję Ci, dankeschön, sondern beugt sich sogar zu ihm hinüber und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.
Olav ist völlig perplex, will wenigstens ihren Arm berühren, aber da ist sie schon ausgestiegen. Für den Rest des Tages treibt ihm der Wacholderbrand jedenfalls die tollsten Visionen ins Hirn.
Starke Frauen werden auf dem Dorf allem zum Trotz noch immer an ihrer Körperstärke gemessen. Erst recht, wenn sie als Mann in Erscheinung treten.
Mal der Reihe nach: Das Dorf hat nämlich eine Fußballmannschaft. Sie existiert erst seit einigen Jahren. Doktor Reiter, ansonsten wenig vertraut mit Ballspielen, hat es sich dennoch nicht nehmen lassen, mithilfe eines Grafikers das ursprünglich angedachte stumpfe, lediglich aus einem Rautenschild und dem Namen des Vereins bestehende Wappen durch eine stilisierte Siegesgöttin zu ersetzen. Diese erst wird dem Namen des
wirklich gerecht. Die Umschrift per aspera ad astra 5 suggeriert außerdem verwegene Ziele. Aber das muss in Augenblicken pathetischer Selbstbesinnung niemanden stören.
Die Wirklichkeit sieht freilich so aus: Das hiesige Spielfeld ist eine unschöne Mischung aus Schotter und Wildwuchs. Und wenn man dann noch weiß, dass es dem Verein kaum einmal gelingt, überhaupt elf Spieler auf den Platz zu bringen, weshalb sie zwar in der untersten Spielklasse mitmischen dürfen, aber eben nur zu elft, andernfalls das Spiel mit 0:3 gegen sie gewertet wird, verwundert es einen nicht, dass sie mit weitem Abstand am Tabellenende verharren.
Man hat versucht, dieses Manko dadurch auszugleichen, dass man die jeweils ein, zwei oder drei fehlenden Spieler durch den ersten und zweiten Vorsitzenden, zur Not noch den Kassierer ersetzt hat. Denn wie im Amateurfußball häufig zu beobachten, verlassen Spieler, weil sie mit den Entscheidungen des Schiedsrichters hadern, mit Kraftausdrücken, wegwerfenden Handbewegungen und mit gespielter Entrüstung gerne vorzeitig den Platz. Wenn nichts anderes hilft, mimen sie sogar schwerere Verletzungen.
Das ist nicht nur wegen des erheblichen Altersunterschieds innerhalb der Mannschaft, sondern auch der falschen auf dem Spielberichtsbogen eingetragenen Namen bei den Ligaoffiziellen ruchbar geworden. Man hat sich deswegen, um einer möglichen Sperre zu entgehen, im Verein zusammengesetzt und beraten.
Der Vorsitzende, Spargelbauer Helfried Masch, sein Vize, Julius Bommerland, ein städtischer Angestellter in der Kreisstadt, Albert Künzing, Kassierer und Packer bei Schleckes, schließlich Max Molka, Trainer und Wirt des örtlichen Dorfkrugs, verfolgen seither eine Idee. Molka ist es gewesen, der sie aufgetischt hat. Er bezeichnet sich gern als Taktikfuchs und untermauert diesen (einzig von ihm selbst am Leben erhaltenen) Ruf damit, dass er seine Trainingseinheiten im Schankraum seiner Kneipe abhält und dort eine Tafel aufstellt, auf die er ekstatische Schnittmusterbögen kritzelt. Das erste Bier ist immer gratis und dadurch ein gewisser Anreiz für die Kicker überhaupt mal zu erscheinen. Länger als dieses eine Bier bleibt freilich selten einer.
Molkas Idee scheint, wie er selbst an dieser Stelle einräumt, durchaus abseitig. Aber schlimmer könne es mit dem Verein eh nicht kommen, meint er, die Jungs hielten sich einfach nicht an seine taktischen Vorgaben.
Masch, Bommerland und Künzing räuspern sich jedes Mal bei diesem eingestreuten Vorwurf.
Also passt auf, sagt Molka, ich habe da an eine Verstärkung gedacht, die nicht bei uns ansässig ist, jedenfalls dürfte niemand sie im Umkreis hier kennen.
Und?
Molka schließt kurz die Augen und sagt: Eine Frau.
Was?
Die Rede ist von Gabi Sonnenstern. Rein optisch gleicht sie dem Klischee einer Kampflesbe. Aber das ist eine Unterstellung, die von ihrer bulligen Gestalt herrührt, ihrem burschikosen Gesicht und der heiseren, am Ende scheinbar durch Hormonbehandlungen tiefer gelegten Stimme. Fakt ist, dass Gabi Sonnenstern in ihrer Frauenliga Torschützenkönigin ist und das mit weitem Abstand. Molka hat sie auch deswegen angesprochen, weil sie – er blinzelt beflissen – einen flachen Busen hat.
Masch, Bommerland und Künzing dämmert was. Du willst sie doch nicht etwa …
Genau das will er. Aber sie macht es nicht umsonst, meint er. Pro Tor, das sie erzielt, verlangt sie – Einstiegspreis – fünfundzwanzig Euro. Plus Anfahrt und Maskenbildnerei. Aber kein Problem, um die kümmert sich meine Frau. Sie malt auch die Ostereier immer so schön an, kann er sich nicht verkneifen hinzuzufügen.
Masch, Bommerland und Künzing wiegen die Köpfe. Per aspera … Molka reißt die Augen auf, macht ein Gesicht, als sei das die große Chance. Sie nicken es schließlich ab.
ist der Pfarrer des Dorfes. Seine Kirche liegt freilich in einem der Nachbarorte und ist regelmäßig schlecht besucht. Um hin und wieder hier im Dorf einen Gottesdienst abhalten zu können, hat er keine geeignete Räumlichkeit gefunden. Nun kommt ihm eine Idee und er macht sie durch einen Flyer bekannt.
Darin werden die Bauern gebeten, ihren Kuhdung von der Weide zu kratzen. Der sei nämlich ein guter und nachhaltiger Baustoff. Bernardo Tirpitz ist einige Jahre missionarisch in Ostafrika unterwegs gewesen und hat gesehen, dass man Bauziegel mit einfachen Mitteln herstellen kann. Man braucht nur den Dung mit Lehm und Stroh zu vermischen und erhält ein hervorragendes und in besonderem Maße naturverträgliches Material. Tirpitz denkt an eine Kapelle.
Der Bürgermeister hat bereits durchblicken lassen, dass die Gemeinde Interesse daran hat. Heinz-Otto Krusche stellt sich ein fremdartig anmutendes Kirchlein vor, vielleicht mit einem Dach aus Haferstroh, jedenfalls etwas Afrikanisches. Das könnte im Hinblick auf mögliche Touristen ein echtes kleines Highlight werden.
Tirpitz’ Idee verleitet bald zu gemeinschaftsgeistigem Eifer. Bauern, gläubig oder nicht, heben angetrocknete Kuhfladen sorgsam, als seien es Vogelnester, von den Wiesen auf und bringen sie zu einem dafür vorgesehenen Anger. Dort stapelt sich allmählich der Dung und es liegt ein süßlicher Geruch in der Luft.
Aus Scheiße Geld machen, dieser Gedanke hat blitzartig von Großbauer Blauweiß Besitz ergriffen. Zwar hat er anfänglich ebenfalls seinen Kuhfladentribut geleistet. Dann aber geht er mit seinem Dung eigene Wege. Seine Absicht macht nicht schon bei Ziegeln halt, er denkt an Töpfe und Vasen, an Kunst. Man müsste das Ganze natürlich entsprechend promoten. Die Dorfkapelle wäre das Pilotprojekt und Blauweiß könnte ähnliche Objekte auch anderweitig verscherbeln. Seine Werbeagentur ist bereits aktiv und hat dazu geraten, gezielt auf die Kirche zuzugehen. Die bekäme dann für ihre Abnahmebereitschaft drei Kapellen für den Preis von zwei.
Читать дальше