Hohenpeissenberg, August 2013
Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?
Hinter jeder Psychotherapie-Richtung steht ausgesprochen oder unausgesprochen ein Menschenbild. Immer gibt es eine manchmal explizite, oft aber nur implizite Vorstellung davon, was einen »gesunden«, psychisch nicht gestörten Menschen ausmacht, was also auch das Ziel der psycho-therapeutischen Bemühung sein sollte. So auch in der Gestalttherapie, der Schule, in der ich als Psychotherapeut ausgebildet worden bin und der ich mich angeschlossen habe – nicht zuletzt, weil mich ihr Menschenbild überzeugt hat.
Auch in der Gestalttherapie ist dieses Menschenbild eher in ihren Vorstellungen von Neurosen versteckt, als dass es in ihrer Literatur deutlich dargestellt und erörtert worden wäre – mit Ausnahme des letzten Abschnitts von PHG, 1betitelt: Das Kriterium – nämlich für psychische Gesundheit (PHG, 333 f.).
Aus diesem Text und aus dem gestalttherapeutischen Ansatz insgesamt entnehme ich die wichtigsten Elemente, aus denen sich das Menschenbild der Gestalttherapie zusammensetzt. Wie bei anderen Therapie-Richtungen ist dieses Menschenbild im Grunde einfach das, was übrig bleibt, wenn die psychischen Störungen überwunden und geheilt sind, unter denen diejenigen Menschen leiden, die sich einem Psychotherapeuten anvertrauen. Auch wenn man, wie es die Gründer der Gestalttherapie getan haben, davon ausgeht, das neurotische Verhaltensweisen Anpassungen an ein gestörtes, ja krankhaftes Gesellschaftssystem sind, so setzt die Gestalttherapie dem die Möglichkeit von kreativen Anpassungen entgegen. Man darf diesen gestalttherapeutischen Begriff nicht als passive Anpassung an den jeweiligen Status quo missverstehen. Vielmehr heißt es bei PHG: »Wir sprechen von der kreativen Anpassung als von der wesentlichen Funktion des Selbst«, und zu der gehören »die schöpferischen Funktionen der Selbstregulation, die für das Neue, für die Zerstörung und Neuintegration der Erfahrung offen sind« (PHG 2006, 49). Und Perls verdeutlichte: »Der Prozess der schöpferischen Anpassung an neues Material und neue Umstände schließt immer auch eine Phase der Aggression und der Zerstörung mit ein, denn nur durch Annäherung, Vereinnahmung und Veränderung neuer Strukturen wird Ungleiches gleich gemacht.« (PHG 1985, 15). Angewandt auf das Projekt eines gelingenden Lebens heißt das mit anderen Worten:
Das gute Leben im schlechten gesellschaftlichen System ist der schöpferische Widerstand gegen die schlechten herrschenden Zustände; ein gesundes Leben ist ein rebellisches Leben.
■ Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob es unter den Bedingungen der großen globalen Krise der kapitalistischen Gesellschaften, in der wir heute leben, ein gutes Leben überhaupt geben kann (H. P. Dreitzel 2009). Hier ist die Beobachtung von Bedeutung, dass Menschen, die sich in praktischer Arbeit und eigenem Engagement gegen die Verwüstungen stemmen, die der unkontrollierte Kapitalismus an der Natur und an den Menschen anrichtet, durchweg glücklicher und zufriedener in ihrem Leben zu sein scheinen, als diejenigen, die resigniert aufgegeben haben oder die immer gleichgültig gegenüber dem Leid anderer geblieben sind. Es geht hier also nicht um ein moralisches Argument, sondern um ein pragmatisches: Es lebt sich besser und gesünder, wenn man im Widerstand lebt. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn der Widerstand als sinnvoll erlebt wird. Und damit dies der Fall sein kann, müssen die Ziele als prinzipiell realisierbar erlebt werden, und darüber hinaus auf die Kräfte und Ressourcen der Betroffenen abgestimmt sein. Eine wichtige, oft unabdingbare Hilfe dabei ist die Solidarität einer Aktionsgruppe: Man ist nicht allein, nutzt die Kräfte der wechselseitigen Unterstützung und der Intelligenz der Organisation.
Es lässt sich dies auch umgekehrt sagen: unter den Bedingungen der Welt-Krise kann man ein gutes, das heißt ein einigermaßen zufriedenes und als sinnvoll erlebtes Leben nur führen, wenn die eigene Vitalität, die individuelle Lebenskraft, auch in einen kreativen Zorn einfließt, der sich auf die Veränderung der lebensfeindlichen ökonomischen Systeme und der verholzten soziobürokratischen Strukturen richtet. Das ist, was die Gestalttherapie gesunde Aggression nennt.
Allerdings muss dazu erst einmal die Vitalität freigesetzt werden, die durch die Verhakung in neurotische Prozesse ständig energetisch geschwächt wird.
Je weniger dies der Fall ist, desto eher – so das »Kriterium« von Perls und Goodman –
– »verringert sich die Erregung nicht, sobald Hindernisse gegenüber dem schöpferischen Prozess auftauchen;
– bleibt die Gestaltbildung nicht stecken, sondern man erlebt spontan neue aggressive Gefühle und aktiviert neue Ich-Funktionen der Vorsicht, Besonnenheit oder Aufmerksamkeit, wie es die Hindernisse erfordern.
– verliert man dabei nicht das Gefühl für sich selbst als synthetische Einheit, sondern es wird immer schärfer; man identifiziert sich damit immer mehr und sortiert das aus, was nicht zu einem gehört.
Im Gegensatz dazu schwankt die Erregung bei einer Neurose an dieser Stelle hin und her,
– die Aggression wird nicht erlebt,
– man verliert das Empfinden für sich selbst,
– man wird verwirrt, gespalten, abgestumpft.
Dieser faktische Unterschied, der in einem fortgesetzten, ununterbrochenen schöpferischen Prozess besteht, ist das entscheidende Kriterium für Vitalität oder Neurose.« (PHG 333/334, Kursivierungen und Einrückungen von HPD).
Es gibt also sehr wohl ein Kriterium dafür, wie ein psychisch gesundes Leben auch unter den Lebensbedingungen möglich ist, die uns der globalisierte, digitale Kapitalismus auferlegt – jedenfalls in den Gesellschaften, in denen die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse nach Nahrung, Trinkwasser und Obdach gesichert ist. Und nur in einem solchen gesellschaftlichen Kontext sind meine weiteren Überlegungen zu verstehen.
■ Aber ist ein psychisch gesundes Leben auch ein glückliches oder gar ein »gutes« Leben? Ein solches gehörte freilich niemals zu den Versprechen der Psychotherapie, jedenfalls nicht der tiefenpsychologisch orientierten. Freud war da ja eher pessimistisch: Die berühmte Formel »Aus Es muss Ich werden« bedeutete für ihn ja nicht etwa die Befreiung zu einem hedonistischen, rein lustvollen Leben, sondern die Anerkennung des »Realitätsprinzips«, nach welchem es ohne Anpassung an die gesellschaftlichen Normen kein befriedetes Leben geben kann. Das war bei Freud (auch angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs) bereits das Höchste des Erreichbaren. Das erwachsene Leben kann nicht einfach dem »Lustprinzip« folgen, menschliche Reife erweist sich für Freud in der Fähigkeit zu Triebaufschub, Triebunterdrückung und Sublimation.
Die Katastrophe erwies sich in der Folge als noch steigerbar: Adorno formulierte seinen berühmt-berüchtigten Satz »Es gibt kein gutes Leben im schlechten« angesichts der Erfahrung von Auschwitz. Dieser Satz aber lebt heimlich von der Utopie, deren Scheitern er sich verdankt – der Vorstellung nämlich, menschliches Leben könnte irgendwann und irgendwie einfach »heil« werden, also ohne selbst gemachtes Leid. Diese Illusion ist freilich erst mit der Säkularisierung christlicher Erlösungsvorstellungen in der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel, in die Welt gekommen. Das Projekt des guten Lebens aber ist eine vorchristliche Idee der Antike, die vor allem mit den Namen Epikur und Seneca verbunden ist.
■ Gestalttherapie setzt allerdings nicht darauf, die Menschen »glücklich« zu machen im Sinne von bloßer Zufriedenheit oder gar Erlösung vom Leid. Sie glaubt aber, dass der Entfaltung des Lebens mit allen seinen Potenzialen ein Gutes innewohnt. Fritz Perls setzte, angeregt von dem Philosophen Jan Christiaan Smuts und dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein, an die scheinbar dem Leben selbst innewohnende Tendenz zum Ausgleich der Widersprüche zum Gleichgewicht an. Während der anarchistische Zug in Paul Goodmans Denken ihn zu der Überzeugung brachte, dass die unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Kräfte und Bestrebungen sich am besten selbst regulieren. So waren diese beiden bedeutendsten Begründer der Gestalttherapie auf unterschiedlichen Wegen zu der gemeinsam vertretenen Ansicht gelangt, dass das Leben, wenn sein Wachstum weder von außen noch von innen gestört wird, von allein zu einem befriedigenden, reifen Gleichgewicht tendiert. Dieser Gedanke von Wachstum enthält jedoch noch keine Idee von Entwicklung!
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