Falls es Ihre eigene Entscheidung war, dieses Buch zu kaufen, um es zu lesen, Sie sich nach wenigen Seiten eingestehen müssen, dass es trotz Ihrer Überzeugung eine falsche Entscheidung war und Sie damit den Glauben an sich selbst verlieren sollten, dann sind wir auch schon bei einer der vielen Fragen, die ich Ihnen als Leser oder Leserin und mir selbst stellen möchte:
»Glaube ich nur das, was ich sehe, oder sehe ich nur das, was ich glaube?« Die Antwort darauf zu finden ist an sich ein Leichtes. Aber machen wir zwei es uns nicht unnötig leicht, sondern denken wir gemeinsam zuerst über das Leben nach. Was ist das eigentlich, ein Leben?
Da sitzt so ein menschliches Wesen auf einem Stein und beobachtet die vorbeiziehenden Wolken. Mehr hat es nicht zu tun. Weil es eben jetzt, in diesem Moment, seine Bestimmung ist, auf einem Stein zu sitzen und vorbeiziehende Wolken zu beobachten. Und dafür braucht es nichts. Nicht einmal einen Namen und auch kein »Ich«.
Abertausende Jahre später ziehen noch immer die Wolken am Himmel vorbei und der Stein ist noch immer derselbe. Aber er ist leer, denn das menschliche Wesen hat jetzt einen Namen, und sein »Ich« ist jetzt gerade auf der Suche. Auf der Suche nach seiner Bestimmung, auf der Suche nach dem Sinn. Sinn und Bestimmung findet man bekanntlich nicht, indem man blöd auf Steinen herumsitzt. Dazu muss man schon etwas tun, da reicht es nicht, einfach nur auf einem Stein zu sitzen und in die Luft zu schauen. Sinn und Bestimmung muss das menschliche Wesen erst finden, und um zu finden muss man oft lange suchen. Oft sucht man in der Zukunft, dort wo ja alles einmal besser wird. Wenn dieses menschliche Wesen keine Mühen, Entbehrungen und Kämpfe scheut, mit ein wenig Glück und Fügung, wird es dann eines Tages seine Bestimmung gefunden haben. Es wird auf einem Stein sitzen und die vorbeiziehenden Wolken beobachten, weil es seine Bestimmung ist, jetzt gerade auf einem Stein zu sitzen und vorbeiziehende Wolken zu beobachten. Bis zu dieser Erkenntnis ist es aber noch ein langer Weg. Manchmal dauert er ein Leben oder, wie manche meinen, viele Leben lang.
Haben Sie Angst, Ihr Leben zu verlieren? Nicht jetzt, während Sie diese Zeilen lesen, aber irgendwann in einer fernen Zukunft? Wenn ja, dann erlauben Sie mir, Ihnen diese Angst zu nehmen. Ganz einfach, weil es unmöglich ist, das Leben zu verlieren. Denn dies würde ja bedeuten, dass Sie eines Tages Ihr Leben verlieren, und Sie selbst sind noch da, um sich darüber zu ärgern, das Leben verloren zu haben. Das kann schon deswegen nicht passieren, weil wir beide gar kein Leben haben. Wir sind ein Leben. Möglicherweise ein ewiges, aber das ist bislang noch nicht bewiesen. Das, was wir so gerne als unser Leben bezeichnen, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung lediglich als unsere Lebensgeschichte, mit welcher wir uns dummerweise oftmals identifizieren, sie damit über das Leben stellen und dabei vergessen, was wir sind: Leben, das leben will, inmitten von anderem Leben, das auch leben will. Und das eint uns mit all den anderen Leben auf diesem Planeten.
Das, was wir fälschlicherweise als unser Leben betrachten, sich aber bei genauerer Betrachtung lediglich als unsere Geschichte entpuppt, ist vergleichbar mit einem Sprung von einem Hochhaus, der ungefähr 80 Jahre dauert. Es beginnt mit der Geburt, der Entscheidung zu springen, und endet mit dem Asphalt, dem Tod. Wobei natürlich so mancher dazwischen, an einer übersehenen Fahnenstange, einem offenen Fensterflügel und, wenn es ganz blöd hergeht, am F der Immofinanz-Leuchtbuchstaben hängen bleibt und dadurch schon vorher den Löffel abgibt oder dabei zumindest bewusstlos und in schwerer Ohnmacht vom Gehsteig zertrümmert wird. Bei manchen setzt diese Bewusstlosigkeit schon sehr früh ein. Und wenn ich früh schreibe, dann meine ich auch früh. Manche schlagen sich ja schon beim Absprung den Kopf so ungeschickt an der Dachkante an, auf dass sie ihre Lebensgeschichte in tiefer Bewusstlosigkeit verleben, ohne jemals gelebt, gespürt und sich selbst erfahren zu haben. Worum es im ersten Teil des Buches geht, ist allerdings das Leben, das wir unabhängig von unserer Geschichte, unabhängig von unserem Verstand und unserem ICH sind.
»Aber ich bin doch ICH. Da ist kein anderer, da bin nur ICH. In mir bin nur ICH. Was soll ich sonst sein außer ICH, das, was ich aus mir gemacht habe. I bin i und Se san Si.«
Aber glauben Sie mir: Ich bin nicht ich, und Sie sind nicht Sie. Wir beide haben ein Ich, wir sind aber keines. Wir haben beide ein Ich, weil wir es durch unser Denken konstruiert haben. ICH ist ein Konstrukt, die Summe unserer Erfahrungen, abhängig von äußeren Umständen.
Überlegen Sie, wenn Sie zu sich sagen: »I bin a festa Trottl«, und damit in der Situation natürlich recht haben, wer spricht da? Was in Ihnen weiß, dass ICH ohne Zweifel ein ziemlicher Idiot ist. Es ist das, was übrig bleibt, wenn Sie eines Tages Ihr ICH verlieren sollten.
Haben Sie schon jemals in der Vergangenheit Ihr ICH verloren? Wenn Sie sich nicht sofort daran erinnern können, hat es keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn dann sind Sie mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit noch nie Ihres ICHs verlustig gegangen. Denn daran würden Sie sich in der Sekunde, ohne nachzudenken, erinnern. So etwas vergisst man nicht. Ich selbst habe mein ICH schon mehrmals verloren. Als Motorradfahrer passiert es fallweise, und das im wahrsten Sinn des Wortes, dass man sich vom Gerät trennt, und das oftmals unfreiwillig. Während sich das Motorrad in der Botanik kalt verformt, kann es schon vorkommen, dass, ausgelöst durch einen dumpfen Aufprall des Kopfes, der FI-Schutzschalter fällt und sich das Bewusstsein kurzzeitig verabschiedet. In der Regel springt dieser Schutzschalter wieder von selbst rein, und man wacht auf, abseits der Fahrbahn, neben einem verbogenen Eisenhaufen, und hat keine Ahnung, wo man sich gerade befindet.
»Was mach ich da? Wo bin ich hier? Wem gehört das verbogene Motorrad? Wie heiß ich eigentlich? Wer bin ICH?«
Alles ist weg. Kein Name, keine Geschichte, kein ICH. Aber du bist zweifellos da. Und genau in diesem Moment ist man dort, wo wir zwei schon einmal waren, aber wir können uns nicht mehr daran erinnern, weil es für Sie und mich schon sehr lange her ist. Für mich war es konkret die Zeit nach dem 31. Oktober 1963.
Wir kommen als kleine göttliche Lebewesen auf die Welt, gesegnet mit der Weisheit des Universums, Teil der Schöpfung und zugleich selbst Schöpfer unserer Welt. Leider widerfährt diesem kleinen Gott aber zumeist etwas Dramatisches: die eigene Lebensgeschichte. Und diese Lebensgeschichte kann aus einem kleinen göttlichen Lebewesen innerhalb von relativ kurzer Zeit, in der Regel sind es 60 bis 80 Jahre, einen verbitterten, desillusionierten und oft hilflosen »alten Trottel« werden lassen. Was den »kleinen Gott« oder die »kleine Göttin« und den »alten Trottel« oder die »alte Trottelin« (alte Trottelin klingt vollkommen bescheuert, ist aber politisch korrekt, es soll ja niemand diskriminiert werden) eint, ist die Abhängigkeit vom Wohlwollen seiner Mitmenschen. Und dieses Wohlwollen verhält sich reziprok zur Dauer der Lebensgeschichte. Wenn der kleine Gott erstmals kräftig in die Windeln scheißt, so ist dies für die wohlgesinnten Mitmenschen ein sensationelles Naturereignis:
»Na so ein großes Haufi, na das glaub’ ich ja nicht. Was in so ein kleines Bauchi alles reingeht, was? Und stinken tut der wie ein großer. Da muss er lachen, was? Tun mir zwei jetzt einmal den Popo machen? Na sicher tun mir zwei jetzt den Popo machen, damit er wieder hübsch ist, gel?«
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