Meine Nachbarn, die dicht neben mir gedrängt über die Brüstung hingen, kannte ich kaum, ich sah sie kaum. Sie waren mir fremd. Zwar standen wir zuerst stundenlang auf der Straße zusammen, und manche stellten sich sogar schon in der vorhergehenden Nacht an und standen den ganzen Tag, um die ersten an der Kasse zu sein. Wenn die Türen geöffnet wurden, rasten wir die vier Stockwerke hinauf, übersprangen Stufen, damit wir uns, wenn irgend möglich, die Plätze an der Brüstung sichern konnten. Die Sitzplätze des vierten Ranges waren zu teuer. Man mußte drei bis vier Stunden stehen, und es war eine Erleichterung, wenn man sich wenigstens anlehnen konnte. Es waren fast ausschließlich junge Leute. Zuerst herrschte bei dem Hin- und Herdrängen eher eine feindselig gereizte Stimmung. Es war ein Kampf ums Dasein. Aber sobald es dunkel wurde und der Vorhang aufging, schmolzen wir zu einer geheimnisvollen Einheit zusammen. Wir hörten plötzlich auf, uns zu räuspern, und hingen an der prunkvoll schweren Decke wie regungslose Fledermäuse. Plötzlich verzogen sich 250 Gesichter zu einem Lächeln, dann lief ein Kichern durch die Reihen, und plötzlich brach ein schallendes Lachen aus wie ein Sturm. Man wurde willenlos mitgerissen … Dann wurde es allmählich ruhig, immer stiller. Die Schauspieler mußten so tun, als ob sie dieses brüllende Lachen nicht gehört hätten, aber sie machten doch eine entsprechende Pause, denn sie hörten jede Regung, wie wir die ihren hörten. Sie warteten, bis wir uns beruhigt hatten. Einige wollten weiter lachen, brachen aber erschrocken ab. Es wurde ernst. Hunderte beugten sich nach links, wo jemand auftrat. Das Paar auf der Bühne sah ihn nicht. Wir waren im Geheimnis – mit Herzklopfen, im Rhythmus atmend. Zwei Ensembles: das Ensemble der Schauspieler und das Ensemble der Zuschauer.
Das Schauspiel war damals ausschließlich auf das Wort gestellt. Die Bühne war ganz primitiv. ln der Dekoration standen nur Möbel, die unbedingt gebraucht wurden. Alles andere war der Schauspieler und sein Wort. Am Burgtheater waren die besten Schauspieler, die es gab, lebenslänglich engagiert und zu einem wunderbaren Ensemble vereinigt. Heute kann man kaum mehr begreifen, was das war, ein »Burgschauspieler«. Er hatte die größten Vorrechte und die größten Ehren. Er bekam spezielles »Handschuh- und Kerzengeld« – man schminkte sich damals bei Kerzenbeleuchtung. – Ja, er wurde täglich mit dem Fiaker abgeholt und ins Theater geführt …!
Aber die Leistungen dieser Schauspieler waren auch unvergeßlich. Sonnenthal! Wie er auf der Bühne Schokolade trank – wie er seinen Hut auf die Erde stellte – das alles war so eindrucksvoll, daß es immer sofort von der an sich schon eleganten Aristokratie angenommen und als Regel anerkannt wurde. Und Lewinsky! Er spielte immer die Schurken und war einer der feinsten, wertvollsten Menschen. Ein großer leidenschaftlicher Büchersammler. Dann Gabillon, Baumeister und der alte Thimig, dessen Rollen ich übrigens zuerst immer spielte. Und die Wolter, Devrient, die Hohenfels, die Schratt, die berühmte Freundin des Kaisers, die ich später in Karlsbad kennenlernte – das alles sind wunderbare Burgtheatererinnerungen. Und dabei – was mußte, besonders später, so ein Burgtheaterzuschauer alles überwinden! Die Schauspieler waren schließlich so alt, daß sie sich den Text nicht mehr merken konnten. So spielten sich nicht nur alle entscheidenden Szenen neben dem Souffleurkasten ab, sondern man hörte meist alle Sätze doppelt – zuerst vom Souffleur und dann vom Schauspieler … Trotzdem war es wunderbar. Da gab es eigene Schauspieler für die kleinsten Rollen. Devrient, zum Beispiel, spielte immer elegante Leute, die hinausgeworfen werden. (Später spielte er natürlich Hauptrollen aller Art.) Aber es gab Schauspieler, die sich in ihrer ganzen Burgtheaterlaufbahn nie auf der Bühne gesetzt hatten. Meistens »meldeten sie an« oder sprachen sonst ein paar Sätze, aber sie kamen nie dazu, sich zu setzen. Ebenso war es im Publikum. Auch ich bin damals in diesem Theater kein einziges Mal gesessen. Auf der Galerie gab es ja nur Stehplätze. Meine Vorbilder waren unerreichbar weit von mir entfernt. Man mußte da oben selbst mitspielen, sich alles ergänzen. Und gerade das war für mich vielleicht der Hauptreiz. Es war gewiß die allerbeste Schule. Wenn der Vorhang aufging, schienen diese Großen zuerst überraschend klein. Aber sie wuchsen von Szene zu Szene, füllten schließlich das ganze Haus und kamen mir zum Greifen nahe. Ich atmete mit ihnen, weinte, lachte, liebte, haßte, tötete, starb mit ihnen, und wenn der Vorhang fiel, schlug ich jauchzend in die Hände, glücklich, daß das ganze prächtige, stürmische und erschütternd aufregende Leben nur ein Spiel war. Es war meine zweite Kindheit.
In diesen Jahren gab es zahllose Gastspiele in Wien: die Comédie Française, Sarah Bernhardt, englische und ungarische Theater, Tiroler Bauernspieler und italienische Truppen. Der junge Reinhardt sah Ernesto Rossi, Gustavo Salvini und, vor allem, Eleonora Duse, die für ihn der Inbegriff höchster Schauspielkunst war. Er hat sie später noch oft erlebt, zuletzt, kurz vor ihrem Tode, in Amerika. Aber nichts kam je wieder dem Eindruck gleich, den er damals in Wien davontrug. Er schreibt darüber:
Niemals werde ich vergessen, wie ich sie zum ersten Mal sah. Das war im Karltheater, und sie spielte die Kameliendame. Ihr Partner hieß Flavio Ando. Ich erinnere mich an eine Szene, in der beide zugleich leidenschaftlich sprechen. Das war eine der vollkommensten Leistungen, die ich je auf dem Theater sah. Beide waren völlig deutlich, und ihr Zusammensprechen war aufgelöst in glühendstes Leben … Die Duse offenbarte sich im Spiel ihres Körpers, ihrer Augen, ihrer Bewegungen, ihres Mundes. Aber in ihrer zauberhaft verschleierten Stimme war ihre Macht zu lieben und zu leiden in eine einzigartige Musik gesetzt. Ich kenne keine Gesangsstimme, die mich mehr erschüttert und beglückt hätte, als wenn die Duse die zornige Anklage ihres Geliebten immer wieder mit dem heiseren, stillen, monoton hervorgestoßenen »Armando« unterbrach.
In der großen Theater- und Musikausstellung wetteiferten die Theater der Welt. Am dortigen Hanswursttheater sah Reinhardt noch den Komiker Ludwig Gottsleben. Bis an sein Lebensende begleitete ihn die Erinnerung an dieses letzte Aufflackern der Commedia dell’arte. Lebendig griff hier Vergangenheit noch einmal in die Gegenwart.
Es gab damals ein kleines Theater im Matzleinsdorf, das »Fürstlich Sulkowskische Privat-Theater«. Der Zuschauerraum fasste nur 230 Personen. Der Deutsche Bühnen-Almanach führt im Jahre 1891 als »Darstellende Mitglieder, Schauspiel und Oper: Die Eleven und Elevinnen sämtlicher dramatischer Lehrer in Wien« an. Ein Herr Miklas führte die Direktion. Der teuerste Platz kostete 60 Kr., der billigste (Stehplatz) 20 Kr. Der Vorverkauf der Karten lag – abgesehen von der Theaterkasse – in den Händen eines Konditors in der Wiedner Hauptstraße, einer Zuckerbäckerin in der Matzleinsdorfer Straße und einer »Blumenerzeugerin« in der Margarethenstraße. Josef Kainz und vorher Emmerich Robert hatten in ihren Anfängen dort zuerst gespielt.
Dieses Theater gab am Sonntag Vorstellungen für die Matzleinsdorfer, aber während der Woche konnten reiche Burschen Rollen, die sie wählen durften, spielen, vorausgesetzt, dass ihre Familie die Vorstellung kaufte, das heißt, alle Sitze übernahm. Nun wäre es freilich nicht in Frage gekommen, dass Reinhardts Familie auch nur einen Sitz, geschweige denn alle erstanden hätte, aber wenn die Reichen sich eine Rolle kauften, blieb für die Armen immer noch etwas übrig. So trat er im April des Jahres 1890 zum ersten Mal auf, und zwar nicht unter seinem Familiennamen Goldmann, sondern unter Reinhardt. (1904 wurde diese Namensänderung offiziell bewilligt.) Er spielte einen neunzigjährigen Mann. Hinter einem langen weißen Bart konnte er seine Schüchternheit verstecken. Im Grunde war er aber kaum aufgeregt, und so ging alles gut.
Читать дальше