Was Max Reinhardt hier schuf, griff tief in die Zeit, die damals um ihn war, die sich wandelte, in der alles im Fluss war wie in einem brodelnden Vulkan. Dichtung, bildende Kunst, Musik – alles rang nach neuem Ausdruck, stammelte, wie in den Dada-Schöpfungen, setzte neue Klangwerte anstelle der alten oder zerlegte Form und Farbe. Was Reinhardt turmhoch über die vergänglichen Kunstströmungen dieser Tage erhob, war eine innere Stetigkeit.
Die Gestalten, denen er Leben verlieh, waren durchblutet, keine Schemen. Das offenbarte sich in Paul Wegener, der den Vater ergreifend darstellte, bei Ernst Deutsch als seinem Sohn, vor allem aber bei Helene Thimig in der Rolle des Mädchens. Instinktiv hatte sie die Melodie dieser neuen Zeitströmung erfasst. Das Wort war bei ihr nicht Träger der Empfindung, sondern Krönung, Sublimierung des Sinnes. Als Max Reinhardt sie im Frühjahr 1917 engagierte, hatte er sie noch nie spielen gesehen. Nur einmal hatte er sie im Theater von einer Loge aus beobachtet, als sie einer Aufführung des Lebenden Leichnams von Tolstoi beiwohnte. Ihr auffallend starkes Reagieren und Mitgerissensein während der Vorstellung hatte ihn davon überzeugt, dass da eine Begabung sein müsse.
Er beauftragte Felix Hollaender, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, ließ sie durch ihn auffordern, zu ihm zu kommen. Sie sprach die Marianne in Goethes Die Geschwister vor. Bei dieser ersten Unterredung erzählte er ihr schon von seinen fernsten Plänen: ein Theater in Hellbrunn oder in der Schweiz. Eine Tournee sollte ihn damals nach Schweden führen. Er forderte Helene Thimig auf, daran teilzunehmen, trug ihr die Viola in Was ihr wollt, die Rolle des Mädchens in Strindbergs Gespenstersonate und die Natascha in Gorkis Nachtasyl an. Zunächst setzte sich aber ihrem Engagement an das Deutsche Theater vieles entgegen. Lucie Höflich hatte es kontraktlich, dass Helene Thimig nicht engagiert werden dürfe … Der Vertrag mit dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin lief noch bis 1918. Er konnte erst nach schwierigen Verhandlungen um ein Jahr früher gelöst werden. Aber endlich, am 17. April 1917, unterschrieb Helene Thimig einen fünfjährigen Vertrag mit dem Deutschen Theater.
Max Reinhardt hatte sie als Schauspielerin kennen gelernt, gleichzeitig aber war es der Beginn einer langen Entwicklung in der Beziehung dieser beiden Menschen zueinander. Jahre vor diesem Zusammentreffen war Max Reinhardt nur noch dem Buchstaben nach mit Else Heims verheiratet gewesen. Andauernde Konflikte wurden vor Anwälten ausgetragen. Reinhardt hatte den besten Willen, alles auf gütlichem Wege zu erledigen. Deshalb wurde zwischen ihm und Helene Thimig beschlossen, dass sie einander ein Jahr lang nicht sehen und jede Verbindung abbrechen wollten. Während dieser Zeit hoffte er, zu einem friedlichen Vergleich mit Frau Heims zu gelangen. Seine ehrliche Absicht scheiterte an ihrem hartnäckigen Widerstand, und es kam erst viele Jahre später zur Lösung dieser Ehe.
Mit seiner Inszenierung der Seeschlacht von Reinhard Goering – ebenfalls im Rahmen des »Jungen Deutschland« – hat Max Reinhardt noch einem zweiten jungen deutschen Dichter Gehör verschafft. In dieser Vorstellung klappte alles mit einer Präzision, die an das Ineinander-Funktionieren der Maschinen auf Kriegsschiffen mahnte. Überragend Wegener, Krauß und Hermann Thimig. Aber selbst Reinhardts Regie konnte gegen das Objektivierte, Kalte dieser überspitzten Symbolik, das für diese Generation so typisch war, nicht aufkommen. Wohl hörte man eine Botschaft, aber sie zeugte keinen Glauben. Scharfe Polemik war dem Werk in Dresden vorangegangen. Ein Teil des revolutionsbereiten Publikums war wohl auch enttäuscht, dass in Berlin alles sensationslos verlief. So hielten sich Beifall und Zischen die Waage.
Einmal noch, drei Jahre später, hat Max Reinhardt mit der Inszenierung eines Stückes von August Stramm, Kräfte, den Versuch gemacht, expressionistischem Drama Geltung zu verschaffen. Sein Ensemble – Helene Thimig, Agnes Straub, Eugen Klöpfer und Hermann Thimig – wurde damals von einem wahren Furor erfasst, Ton-Werte sprechen zu lassen, scheinbar zusammenhanglosen Worten durch Rhythmus und Klangschattierung Sinn zu geben, Dialog »auf Noten gesetzt« zu rezitieren. Das Experiment gelang, und Max Reinhardt nahm das Stück sogar auf eine skandinavische Tournee mit. Da ihm aber im Grunde diese Kunstform doch sehr ferne lag, hat er nie wieder Ähnliches unternommen.
18. Mai 1918: Die Zirkusfront ist eingestürzt.
6. Juni 1918: R., ein Freund, ist mit Reinhardt am Großen Schauspielhaus vorbeigegangen. Wenn Reinhardt davon spricht, dass es mit dem Bau eventuell nicht klappen könnte, kommen ihm die Tränen in die Augen.
Aber Schwierigkeiten ließen Max Reinhardt seit jeher nur um so leidenschaftlicher danach streben, sein Ziel zu erreichen. Er hatte die Gabe, nachtwandlerisch die Menschen zu finden, die sich für die gegebene Aufgabe am besten eigneten. In Hans Poelzig zog er einen genialen Mitarbeiter heran. So wurde das Große Schauspielhaus nicht nur in architektonischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf alles Technische ein einzigartiger Wunderbau. Indirekte Beleuchtung in Zuschauerraum und Foyers schuf ein warmes Licht, das nicht blendete. Die Pfeiler in den Umgängen glichen Blumen in indischen Tempeln. Die Stalaktiten der Kuppeldecke des Zuschauerraumes unterstützten die Akustik. Das geflüsterte Wort war auf der höchsten Galerie noch hörbar. Reinhardts Traum eines »Theaters der Fünftausend« war erfüllt. (Das Haus fasst in Wirklichkeit 3200 Zuschauer.) Die Kluft zwischen Schauspielern und Publikum war überbrückt. Eine Auferstehung des Theaters der Antike. Mit der Orestie des Aischylos wurde das Haus am 29. November 1919 eingeweiht. In derselben Spielzeit folgten darauf, in ebenfalls glänzenden Besetzungen, Hamlet, Danton von Romain Rolland, König Ödipus und Jedermann.
Mit ungeheuren Kosten, allen Hindernissen zum Trotz, die sich in der chaotischen Nachkriegszeit einem solchen Unterfangen entgegenstellten (Streik, Kohlennot, Lichtmangel), war das Große Schauspielhaus fertiggestellt worden. Die Bedingungen für das Zusammenspiel von Schauspieler und Publikum, der Raum war geschaffen worden. Aber der Kurzsichtigkeit einer Schar von Kritikern, die sich jeder Neuerung eigensinnig verschloss, gelang es über ein Jahr lang, das theaterfremde Nachkriegspublikum zu beeinflussen und fernzuhalten. Nur wenige verständnisvolle, einsichtige, wichtige Schriftsteller traten für Reinhardts ,,Theater der Fünftausend« ein. Zögernd, aber von dem ewigen Zauber echten Theaters doch unwiderstehlich angezogen, folgte dann schließlich doch auch das neue Publikum. Die Suggestion des gedruckten Wortes verblasste neben dramatischem Geschehen, das die Zuschauer in seinen Zauberkreis riss und magisch bannte. Max Reinhardt hatte gehofft, dass eine neue Dichtergeneration der neuen Zeit, die hereingebrochen war, Stimme verleihen würde, dass er dem Drama dieser Jahre des Umschwungs ein Haus geschaffen habe. Aber auch hier erlebte er eine Enttäuschung: das Drama dieser Zeit war blutarm, erstickt in papierener Symbolik und Propaganda. In den Straßen, die zu den Theatern führten, war Revolution. Schauspieler und Zuschauer, die stundenweit zu Fuß gegangen waren, mussten oft zuletzt noch im Kugelregen über die Weidendammer Brücke oder über den Steg laufen. Die Folie der Wirklichkeit war zu stark. Nur echtes Drama hätte dagegen aufkommen können, aber die jungen Dichter versagten. Max Reinhardt hat oft über »die dramatischen Momente der Zeitgeschichte« gesprochen:
… der letzte Zar und seine Familie; der Tod Rasputins. Die Ermordung Lincolns im Theater. Die Abdankung des letzten Sultans. Die Rede Rathenaus. Der Frieden in Versailles. Das Eindringen des Mobs in Versailles, in die Tuilerien. Die Flucht des Königs und der Königin. Gerichtsszenen: Ideal der dramatischen Form (Mary Dugan).
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