»Der Bilwis ist nie ein gutes Zeichen«, sagte der Fuhrmann namens Dietz und schlug gleich dreimal das Kreuz. Seine Hand zitterte wie ein Weberknecht in einer zugigen Zimmerecke. »Man hat uns in Rosenheim versichert, dass die Straßen bis München sicher sind, Herr. Und dann das!«
»Nun, seid ihr sicher nach München gekommen oder nicht, ihr schlotternden Waschweiber?«, rief Stoffel. »Na also!«
Ein mageres, kleinwüchsiges Männlein quetschte sich zwischen den Menschen hindurch und fluchte leise vor sich hin, dass offensichtlich niemand mehr heutzutage es für nötig hielt, anderen Reisenden Platz zu machen. Zeternd humpelte das Männlein weiter, bis ihm Tassilo »He da, bleib stehen!« zurief. Der Angesprochene drehte sich verwundert um.
»Mein Herr?« Er war so klein, dass er den Kopf ganz in den Nacken legen musste, um zu Tassilo aufschauen zu können.
»Was hast du da in der Hand?«, fragte Tassilo.
Der dürre Mann hob seine linke und öffnete sie. »Nichts. Wieso fragt Ihr, Herr?«
»Öffne die rechte!«
»Die ist schmutzig vom … vom Abort, Herr.« Er wischte sie sich am ohnehin dreckigen Gewand ab, dann hob er die knochige Rechte. Leer.
Tassilo seufzte. »Christoffel«, befahl er. »Rechte Seite.«
Der Diener sprang vom Maultier, nahm das überrumpelte Männlein so in den Schwitzkasten, dass dessen Genick knackte, und durchsuchte gleichzeitig mit geübten Griffen dessen Taschen und Beutel. Schnell lagen ein Holzlöffel, ein Kanten Brot und zwei Zwiebeln auf den Holzbohlen der Brücke. Außerdem noch ein scharfes Messer und fünf Silberpfennige.
»Die Fuhrknechte tun jetzt gut daran, vorsichtig ihre Geldsäcke zu untersuchen«, sagte Tassilo Stubenruß. »Ich sage vorsichtig, weil durch den Schlitz, den der Dieb mit seinem Messer hineingeschnitten hat, noch mehr Münzen entweichen können. Und es wäre doch schade, wenn das Geld in die Isar plumpsen würde, oder?«
»Woher wusstet Ihr …« Einer der Fuhrleute hielt seinen ledernen Säckel hoch. Ein sauberer Schnitt auf halber Höhe. Die Bäuerinnen kreischten auf und durchsuchten sofort ihre Beutel und Taschen.
»Bringt ihn ins Gefängnis, den Dieb«, befahl Tassilo. »Mal sehen, ob er morgen noch beide Hände haben wird.«
2 Die Leiche im Keller
Die Ratssitzung verlief genauso langweilig, wie Tassilo befürchtet hatte. Es war mitten im Sommer, auch wenn selbiger bisher äußerst herbstlich dahergekommen war. Es gab keine wichtigen Themen zu besprechen. Darum hatte man sie erst auf Mittag angesetzt, normalerweise begannen die Sitzungen bereits in aller Herrgottsfrühe. Elf der zwölf Ratsherren des Inneren Rats der Stadt München waren anwesend. Honlin Eßwurm, der Tuchhändler, fehlte, da er zu wichtigen Geschäften in Frankreich weilte. Tassilo Stubenruß war mit großem Abstand der Jüngste unter den Ratsherren. Die meisten hatten die vierzig schon hinter sich.
Neben dem Inneren gab es noch einen Äußeren Rat der Stadt, dem vierundzwanzig vornehme Bürger angehörten. Eine Art Kontroll- und Beratergremium für den Inneren Rat. Der Äußere Rat galt als Sprungbrett für den gesellschaftlichen Aufstieg, von hier aus führte der Weg für Kaufleute, Handwerker und Grundbesitzer niederer Abkunft in den Inneren Rat, also an die Spitze der Stadt. Innerer und Äußerer Rat stellten jeweils einen Bürgermeister. Die beiden Bürgermeister durften dann den Herzögen die Ratsbeschlüsse nahebringen. Das Amt wechselte monatlich den Träger. In diesem Juli war der Salzhändler Seitz Hundertpfundt dran, dessen Name passenderweise alles über seine Leibesfülle aussagte. Wie üblich nahm der Bürgermeister des Äußeren Rats an der Sitzung teil, Paul Wilprecht, schon rein optisch das genaue Gegenteil zu Hundertpfundt. Saßen sie nebeneinander, konnte es passieren, dass man Wilprecht überhaupt nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen konnte, weil er neben Hundertpfundt so unterging.
Übrigens gab es in der Stadtverwaltung noch ein drittes Gremium, das ein Mitspracherecht in allen Belangen hatte: Die Gemain, ein sechsunddreißig Mann starker Ausschuss, den die Gemeinschaft aller Münchner Haus- und Grundbesitzer stellte. Aber die Gemain hatte auf normalen Ratssitzungen nichts zu suchen. Ebenso wenig wie der Oberrichter. Der kam nur zu den Sitzungen, an denen der Stadtrat Todesurteile zu fällen hatte. Und aktuell stand kein derartiges Urteil an. Doch zu Tassilo Stubenruß’ Verwunderung saß am Tisch der Oberrichter Bartholomäus Fenggen, gemeinhin von allen Fenggenbartel genannt, was nur für Nichteingeweihte respektlos klang. Selbst die Fenggens nannten ihn untereinander so. Man musste die Fenggenbrüder im Gespräch irgendwie schnell unterscheiden können, also gabs den Fenggenbartel und den Fenggenmuck. Der Sohn vom Nepomuk war der Fenggenmathes. Der Bartel war deutlich jünger als der Nepomuk, fünfzehn Jahre trennten sie. Natürlich vermied Bartel jeglichen Blickkontakt mit seinem verhassten Bruder Nepomuk. Gelegentlich lugte er dem Schreiber, der das Protokoll führte, über die Schulter, ansonsten starrte er schweigend auf seine gefalteten Hände.
Ein weiteres Dauerthema, das regelmäßig für erhitzte Diskussionen sorgte, war, wie man gegen nächtliches Rumoren energischer vorgehen könnte. Die Stadt war voll von Feier- und Saufwütigen, die die Nächte zum Tag machten und die redlichen Anwohner um den Schlaf brachten. Prinzipiell waren alle dafür, dass die Straßen sicherer werden sollten. Die Ratsherren Casper Tömlinger und Michel Astaler wehrten sich gegen schärfere Kontrollen in den Wirtshäusern, aber die waren Weinschenke und daher auf trinkfreudiges Publikum angewiesen. »Bei mir in der Schenke hat es noch nie, noch NIE! eine Schlägerei gegeben«, brachte Astaler empört vor. »Freilich, IN deiner Schenke nicht«, rief Urban Katzmair zur allgemeinen Erheiterung, »weil sich die Saubande nämlich VOR deiner Schenke schlägert und rumbrüllt wie nicht gescheit.« Der Rat Ulrich Ligsalz warf nicht ganz zu Unrecht ein, dass man halt den Wein nicht zu sehr mit irremachenden Kräutern würzen solle – wie beispielsweise mit Stechapfel oder Bilsenkraut. Das, so Ligsalz, solle man endlich mal verbieten. Dann, so warf Astaler ein, würde ja niemand mehr Wein trinken! Er würde sowieso nur Bilsenkraut in minimalsten Mengen beimischen und weder Stechapfel noch Tollkirsche kämen ihm in den Wein. Der Alkohol, so antwortete der Ligsalz, wäre schon Rausch genug, das würde reichen.
Den Wenzel Pötzschner trieb eher die Frage um, wer denn die zusätzlichen Wachen bezahlen sollte, ganz ohne Abgabenerhöhung! Da tauchte der Bürgermeister Paul Wilprecht hinter den Massen des Bürgermeisters Hundertpfundt auf und rief, dass eine Abgabenerhöhung mit ihm als Bürgermeister und dem gesamten Äußeren Rat auf gar keinen Fall zu machen sei! Nie und nimmer! So wahr er hier stehe!
Tassilo gab unter allgemeinem Nicken zu bedenken, dass der Stadthaushalt aktuell überstrapaziert sei. Die Erneuerung und Erweiterung der Stadtmauer, dann die letztjährigen Katastrophen – Brückeneinsturz und Stadtbrand –, dazu die zu erwartenden Ernteausfälle. Wenn man gerade jetzt mit Abgabenerhöhungen ankäme, könnte das die Münchner zu Aufständen verleiten. Und wozu solche Aufstände führten, das sei ja wohl besonders den älteren Herren nur zu bekannt.
Immerhin einigte man sich auf den Unterpunkt, dass weiterhin jeder, der des Nachts auf den Straßen unterwegs war (aus welchen Gründen auch immer), ein Licht mit sich führen musste. Wer dagegen verstieß, durfte von jedermann in die städtische Schergenstube im Ratshauskeller geworfen werden.
Bei der Frage, ob die Stadt in baldiger Zukunft den unverheirateten Männern ein offizielles Bordell zur Verfügung stellen sollte, flammte kurz ein Streit zwischen Veit Sendlinger und Melchior Pütrich auf. Die Sendlinger und die Pütrichs zählten zu den ältesten, einflussreichsten und grundsätzlich gegensätzliche Meinungen vertretenden Münchner Familien. Es war in den vergangenen Monaten wiederholt zu Übergriffen auf junge Mägde und zu Vergewaltigungen gekommen. Der greise, verschrumpelte Veit Sendlinger hatte zeitlebens wie ein Asket gelebt, was ihn nicht vor der Gicht bewahrt hatte. Dicht eingemummelt in Pelze, deren Wärme seine Krankheit lindern halfen, sah er hinfälliger aus, als er tatsächlich war. Ein fanatischer Betbruder vor dem Herrn, der überall Unzucht und Sodomie witterte. In Sachen Betbruder konnte es nur noch der Fenggenmuck mit ihm aufnehmen, doch der war geradezu liberal, was die Ansichten über Zwischengeschlechtliches anging. Die gichtigen Hände des Sendlinger schienen eh immer ineinander zum Gebet verknotet. Er forderte lautstark, dass die unverheirateten Männer sich gefälligst in keuscher Enthaltsamkeit üben sollten, das sei ja wohl nicht zu viel verlangt – hier überging er geflissentlich das nicht sonderlich unterdrückte Gelächter der anderen Herren. Und wer nicht hören wolle, dem solle man zur Strafe sein »Ding da« abhacken. Melchior Pütrich verwies darauf, dass der Mensch nun einmal von Geburt an sündhaft sei – daran sei bekanntlich das Weib an sich schuld, also das Urweib, die Eva, damals mit dem Apfel –, und betonte, dass das Bordell, das der Scharfrichter momentan in der Nähe seines Hauses betrieb, ohnehin unter schärfster städtischer Kontrolle stehe. Daher sei es nur ein kleiner Schritt, dieses »Frauenhaus« offiziell zu machen und dem Henker, der ohnehin von der Stadt bezahlt wurde, die Aufsicht über das liederliche Weibsvolk zu übertragen. Man sollte, warf da der Rat Lorentz Tulbeck ein, zu diesem delikaten Thema auch die Kirche anhören, speziell den Fürstbischof von Freising. Der Sendlinger nickte beifällig, mehrere andere, darunter Tassilo Stubenruß, verdrehten genervt die Augen. Was der Fürstbischof zu dem Thema sagen würde, sofern man ihn mal von seiner Geliebten runterbekam, war eh klar. Also könnte man das auch gleich lassen. Die Abstimmung wurde vertagt.
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