»Du musst auf die Bühne. Er ist ermordet worden«, sagte sie zu ihrem Begleiter.
»Wie, was?«, fragte dieser, noch immer etwas desorientiert. »Der widerliche Intendant. Jemand hat ihn vergiftet.«
Inzwischen war ein Arzt auf die Bühne geeilt. Dr. Reinhard Mayrhuber lockerte die Krawatte und öffnete den Hemdkragen des auf dem Boden Liegenden. Dann erhob er sich und winkte schweigend Herbert Frühauf zu sich.
Rosa Weichsler folgte ihrem Begleiter auf das Podium.
»Ich kann leider nichts mehr machen. Exitus. Bittermandelgeruch. Cyanwasserstoff, Nitrit der Ameisensäure.«
»Blausäure«, sagte Rosa Weichsler mehr zu sich selbst. Jemand hatte Gift in den Kelch getan, aus dem der Intendant getrunken hatte.
Jetzt war der Chefinspektor voll aus dem Dämmerzustand erwacht, in den ihn die Aufführung versetzt hatte. Entschlossenen Schrittes bewegte er sich auf den Regisseur zu und bat ihn zu bleiben.
»Alle anderen«, sagte Frühauf, »können nach Hause gehen, müssen aber mit einer Einvernahme in den nächsten Tagen rechnen.« Dann wandte er sich zum Publikum: »Wir haben einen bedauerlichen Todesfall zu beklagen. Ich muss Sie bitten, den Ort des Geschehens in aller Ruhe zu verlassen.«
»Was ist los? Was ist mit meinem Mann?«, rief die Frau des Intendanten.
»Doktor Mayrhuber wird sich Ihrer annehmen«, sagte der Chefinspektor.
Die Buhlschaft weinte. Der Teufel lächelte.
2. DIE KARTEN DER SOUFFLEUSE
Rosa Weichsler war erst gegen halb drei ins Bett gekommen. Zuerst hatte sie an der Seite des Chefinspektors ausgeharrt, um ihm einerseits in den Ermittlungen beizustehen, andererseits wollte sie in diesem Fall von Anfang an auf dem Laufenden bleiben. Frühauf würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine falsche Fährte aufnehmen, einen Unschuldigen, ob Mann oder Frau, verdächtigen und diesen Menschen am Ende entweder ins Gefängnis oder sich um seinen Job bringen.
Als sie kurz nach ein Uhr endlich zu Hause war, wollte ihre Zwillingsschwester Marie wissen, wie der Abend gelaufen war, dann rief noch Frühaufs Mutter an.
»Weichsler«, meldete sich Rosa.
»Wer genau? Spreche ich mit Rosa oder mit Marie?«, erkundigte sich die Frau mit für ihr Alter und die fortgeschrittene Stunde erstaunlich kräftiger Stimme.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Rosa.
Ihr und ihrer Schwester war es wichtig, in der Öffentlichkeit als eine Person aufzutreten, nämlich als Rosmarie Weichsler.
»Meinem Sohn können Sie das vormachen, mich täuschen Sie nicht«, sagte Liliane Frühauf. »Es ist wohl eindeutig, dass er mit zwei verschiedenen Frauen unterwegs ist. Wenn sie einander auch sehr ähnlich schauen.«
»Aber nein, ich versichere Ihnen …«
»Keine Angst. Ich verrate es ihm nicht. Dieses Geheimnis bleibt unter uns. Solidarität unter Frauen, sozusagen.«
»Ich weiß nicht …«
»Kein Wort mehr zu diesem Thema. Was ist heute Abend passiert? Herbie hat sich geweigert, mir irgendetwas zu verraten. Das macht er immer, wenn er verwirrt ist.«
»Ein Mord, Frau Frühauf. Am Ende der Premiere der Sommerspiele im Schlossgraben.«
»Jedermann.«
»Jedermann.«
»Wer?«
»Der Intendant.«
»Das Schwein?«
»Wie?«
»Siegfried Hagen. Eine üble Figur. Er wollte nicht zahlen.«
»Wie meinen Sie das, Frau Frühauf?«
»Er hat uns eine viel zu teure Gebäudeversicherung angedreht. Ich habe Herbie vor ihm gewarnt. Aber weil sie demselben infantilen Verein angehören, wollte er unbedingt mit Hagen ins Geschäft kommen …«
»Welcher Verein?«, fragte Rosa Weichsler.
»Schlaraffen. Jedenfalls wollte er nicht zahlen, als der Sturm unser Dach beschädigte. Ich musste mich an die Versicherungszentrale wenden. Hat ihn jemand erstochen?«
»Nein.«
»Erschossen?«
»Vergiftet.«
»Das kann nur seine Frau gewesen sein.«
»Warum?«
»Sie ist eine giftige Person.«
»Wir … ich werde diesem Hinweis nachgehen.«
»Sie halten mich auf dem Laufenden.«
»Wenn Sie das Geheimnis wahren.«
»Welches Geheimnis, teure Rosmarie? Habe ich irgendetwas von einem Geheimnis gesagt?«
»Natürlich nicht. Danke.«
»Nicht der Rede wert.«
All das musste Rosa mit ihrer Schwester bereden. Kein Wunder, dass sie erst spät ins Bett kam und dann lange nicht einschlafen konnte.
Als sie dann endlich schlief, träumte sie von Hugo. Hugo von Hofmannsthal, der gegen die ungerechte Beurteilung durch einen literarischen Laien wie Rosa protestierte. Diese wiederum beschied dem Poeten, dass sie von seiner Frauenfeindlichkeit wisse, dass er ein verkappter Homosexueller und zu feig gewesen sei, mit Stefan George zu schlafen. Seine schriftstellerischen Hervorbringungen seien kläglich gewesen, ohne originelle Ideen, ohne eigenständige Form. Sein Lebensinhalt sei die Krise gewesen, in der er sich divenhaft mithilfe seines Chandos-Briefes geradezu gesuhlt habe. Der Umstand, dass man ihn nicht völlig vergessen habe, sei ausschließlich der Musik von Richard Strauss zu verdanken.
»Wenn Sie mir jetzt auch noch meine jüdische Herkunft und den Selbstmord meines Sohnes vorwerfen …«
»Unsinn«, unterbrach ihn Rosa Weichsler. »Sie wollen vom Thema ablenken.«
»Gut, bleiben wir beim Thema. Das Stück Jedermann. Es wurde nicht vertont und hat sich dennoch auf den Bühnen gehalten.«
»Weil es so schlecht ist. Das ist der Grund. Und weil es zwei große Rollen für so genannte Stars bietet.«
»Ach, gehen Sie doch zum Teufel. Wie komme ich dazu, mich mit Ihnen zu unterhalten!«, fauchte Hofmannsthal und entschwand.
Rosa Weichsler erwachte mit dem Wort Teufel auf den Lippen.
Hatte der Teufel den Intendanten geholt? Das wäre doch zu offensichtlich. Und doch lohnte es sich, dieser Spur nachzugehen.
Rosa Weichsler lag bis zum Morgen wach im Bett und war froh, dass ihre Schwester Vormittagsdienst in der Trafik hatte.
»Du hast gut geschlafen. Du bist so frisch heute Morgen«, begrüßte Herbert Frühauf Marie Weichsler in der Trafik am Steyrer Schloss. Er kaufte jeden Morgen die auflagenstarke Boulevardzeitung des Landes, weniger der Lektüre wegen, als um seine Rosmarie zu sehen, bevor er seine Dienstelle aufsuchte, die ebenfalls im Schloss untergebracht war.
»Und?«, schaute er sie hoffnungsvoll an, »hast du schon eine Idee, wer Siegfried Hagen auf dem Gewissen hat? Wenn man von einem Motiv ausgeht, käme die ganze Stadt in Frage.«
»Für mich ist es noch zu früh, mich auf jemanden festzulegen«, erwiderte Marie, die den Stapel mit den Morgenzeitungen öffnete, der in den frühen Morgenstunden vor der Trafik abgelegt worden war und stellte die Gegenfrage: »Und du? Wie siehst du den Fall?«
»Mir gefällt der Teufel ganz und gar nicht.«
Marie Weichsler sagte nichts dazu. Sie wusste nicht, was Frühauf damit meinte. Sie musste erst ihre Schwester dazu befragen.
Frühauf jedoch interpretierte ihr Schweigen als Kritik und begann sich zu verteidigen: »Der Regisseur hat mir erzählt, dass die Frau, die den Teufel spielt, schon einmal bei einer der Proben etwas in die Getränke der Schauspieler geschüttet hat, ein Abführmittel. Die Schauspieler haben seitdem das Trinken nur angedeutet.«
»Mit Ausnahme des Intendanten, wie sich gezeigt hat. Nein, ich bin noch nicht so weit.«
»Aber du hast doch Ideen«, ließ Frühauf nicht locker.
»Die habe ich, natürlich. Nicht die ganze Stadt kommt für den Mord in Frage, sondern nur Leute, die Zugang zur Bühne hatten.«
»Natürlich. Das ist selbstverständlich.«
»Und wer hatte Zugang zur Bühne?«, fragte Marie Weichsler.
»Die Schauspieler.«
»Die Techniker. Alle, die irgendwie an der Aufführung mitwirkten.«
»Die Frau des Ermordeten, die Kinder.«
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