Auch im Falle Schütz-Brandt waren die Familien miteinander befreundet, jedenfalls neben den Männern auch die Frauen. Wenn Willy Brandt und Klaus Schütz ihre langen Spaziergänge machten, auf denen sie viel (Macht-)Politisches beredeten, nahmen sie mich oft mit, auch als ich schon älter war und anfing, kritisch über das zu denken, was da zur Sprache kam. Als ich meinen Vater einmal auf etwas ansprach, das mich an Schütz irritierte, legte er mir nahe, den vermeintlichen Zynismus mancher Äußerungen von Klaus nicht falsch zu verstehen. Dahinter verberge sich ein ausgeprägtes moralisches Empfinden, das sich mit Zynismen gegen ständige Verletzungen imprägniere. Solche Belehrungen erteilte mein Vater nicht oft – und wenn, dann ohne Zeigefinger. Vielleicht haben sie sich bei mir deswegen so gut eingeprägt, weil er sie so vorsichtig dosierte. Allerdings, so denke ich, wären etwas mehr direkte Orientierungsangebote in manchen Phasen hilfreich gewesen …
Was Klaus Schütz und Willy Brandt um 1960 überlegten, klang in den Ohren eines aufgeweckten Zehn-, Zwölf-, oder Vierzehnjährigen bisweilen recht bizarr. Weil sie sicher sein konnten, dass der andere nichts in den falschen Hals bekam, sprachen sie ohne Vorbehalt und Vorsicht. Von Willys Kanzlerkandidatur war, soweit ich mich erinnern kann, vor dem Sommer 1960 nicht die Rede, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Von der programmatischen und strategisch-taktischen Neuaufstellung der SPD sprachen sie dagegen viel und zogen – neben anderem – sogar ein Zusammengehen der SPD mit der Heimatvertriebenenpartei BHE in Betracht. Das war damals nicht ganz so absurd, wie es sich in der Rückschau ausnimmt. Zwischen beiden Gruppierungen gab es inhaltliche Überschneidungen, insbesondere in der Sozialpolitik. Auch koalierten SPD und BHE in mehreren Bundesländern, wie zum Beispiel in Hessen. Schließlich gehörten wichtige Funktionäre des Bundes der Vertriebenen beziehungsweise seiner Landsmannschaften auch der SPD an, so Wenzel Jaksch, der als sudetendeutscher Sozialdemokrat in den dreißiger Jahren einen »volkssozialistischen« Flügel repräsentierte. Jaksch war übrigens im Früherbst 1965 zum letzten Mal bei uns zu Besuch, im Jahr danach kam er bei einem Autounfall ums Leben. Ich will nicht zu viel in solche Episoden hineinlegen. Mir liegt vor allem daran zu illustrieren, wie Willy Brandt um 1960 gemeinsam mit Klaus Schütz Gedankenspiele anstellte, die einem einzigen Ziel dienten: der bundesdeutschen SPD einen Weg aus der Dreißigprozentecke und der strukturellen Minderheitsposition zu eröffnen. Meine Mutter meinte scherzhaft: »Wenn sie das an die Regierung brächte, würden sie sich selbst mit dem Teufel verbünden.«
Im Herbst 1961, kurz nach dem Mauerbau und der verlorenen Bundestagswahl, beschloss mein Vater, im kommenden Januar mit seinem Berater und engen Mitarbeiter Egon Bahr in Tunesien auf der Insel Djerba zwei oder drei Wochen Urlaub zu machen. Verglichen mit dem Tourismus späterer Jahrzehnte war das Land noch ziemlich ursprünglich. Ob er selbst darauf gekommen war oder ob meine Mutter ihm das eingeblasen hatte: Ich als Sohn Nr. 1 sollte mit. Nach einem ausführlichen Antrag an die Schule (»einmaliges Bildungserlebnis«), durfte ich als dritter Mann mitfahren.
Die tunesische Regierung stellte unaufgefordert einen Chauffeur und zwei Sicherheitsleute für uns ab, die wir, in der Annahme, damit auch ihren Rang zu erfassen, Nummer eins, Nummer zwei und Nummer drei nannten. Tatsächlich war Nummer zwei der Chef der kleinen Crew. Einmal zeigte er uns die Narben an seinem Bein, die von Folterungen durch die französische Kolonialmacht herrührten. Wir verbrachten zwei Wochen in einem wunderbar orientalischen Hotel auf Djerba und reisten dann mehrere Tage durchs Land. Es war nicht nur für mich außerordentlich faszinierend. Am Ende der Reise traf mein Vater in Tunis Präsident Habib Bourguiba, der sich schon durch seinen Palast als ein orientalischer Potentat zu erkennen gab, wie er leider auch aus antikolonialen Bewegungen hervorgehen konnte. Der Westberliner Bürgermeister war Anfang 1962 nicht wählerisch, wenn es galt, Unterstützung zu finden.
Meine »objektive Funktion« auf dieser Reise bestand nicht zuletzt darin, bei den gelegentlichen Einladungen durch starkes Essen die Wertschätzung der Gäste für das ihnen Kredenzte glaubwürdig auszudrücken. Ob in einem Beduinenzelt, wo undefinierbare scharfe Gerichte serviert wurden, oder beim Gouverneur von Djerba, der von Soldaten oder Polizisten eine Unzahl von Gerichten in unglaublichen Quantitäten bringen ließ – ich war von Natur aus sehr dünn und konnte folgenlos riesige Mengen verdrücken. Willy und Egon gaben sich ebenfalls Mühe, lagen aber am Folgetag prompt krank darnieder. Nur ich war putzmunter!
Egon Bahr fungierte seit 1960 als Senatspressechef, nachdem er Redakteur beim RIAS gewesen war. Als wir zusammen nach Tunesien fuhren, waren die beiden schon per Du, aber so ganz sicher schien sich mein Vater nicht zu sein, wie vertraulich er mit seinem befreundeten Mitarbeiter und Berater umgehen konnte. Als Egon beim Hochseeangeln besonders viele Fische fing, ernannten mein Vater und ich ihn zu »Dr. Barsch« (natürlich waren es keine Barsche, die er gefangen hatte). Egon wurde des Herumalberns wohl irgendwie überdrüssig, sodass Vater mich, der ich kein Ende finden konnte, unauffällig stoppte. Er war ein sorgsamer Mensch, stets bestrebt, andere weder absichtlich noch unabsichtlich zu beleidigen oder zu verunsichern. Wieder in Berlin, kam Egon Bahr immer häufiger zu uns nach Hause, manchmal auch mit seiner damaligen Frau Dorothea (die sich dauerhaft mit Rut anfreundete), Sohn Wolfgang und Tochter Marion. Ich werde nie vergessen, wie mich Egons Äußerung elektrisierte, nach Adolf Hitler hätte »der Separatist« Adenauer (nebst Ulbricht) am meisten zur Verhinderung der Wiedergeburt Deutschlands als eines einheitlichen souveränen Staates beigetragen. Vater, der dabei war, kommentierte diese Äußerung nicht, obwohl er meine Verwirrung bemerkt haben muss.
Zum Freundeskreis der Familie Brandt gehörten auch nordeuropäische Diplomaten und Journalisten, Iris und Frank Holte, Hjørdis und Oddvar Ås, »Poppi« und Per Monsen aus Norwegen, Christina und Dieter Winter sowie Astrid und Bo Jærborg aus Schweden. Mit den nordischen Freunden sang mein Vater deutsche Volks- und Fahrtenlieder, darunter sein Lieblingslied aus der Jugendbewegung, das auch mein Lieblingslied werden sollte: »Wilde Gesellen«. Dazu spielte er damals noch auf seiner Mandoline.
Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen und Loden, ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden. Fidel Gewand in farbiger Pracht trefft keinen Zeisig ihr bunter, ob uns auch Speier und Spötter verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.
Ziehn wir dahin durch Braus und durch Brand, klopfen bei Veit und Velten. Huldiges Herze und helfende Hand sind ja so selten, so selten. Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß immer nur hurtig und munter. Ob uns der eigene Bruder vergaß, uns geht die Sonne nicht unter.
Aber da draußen am Wegesrand, dort bei dem König der Dornen. Klingen die Fiedeln ins weite Land, klagen dem Herrn unser Carmen. Und der Gekrönte sendet im Tau tröstende Tränen herunter. Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau, uns geht die Sonne nicht unter.
Bleibt auch dereinst das Herz uns stehn, niemand wird Tränen uns weinen. Leis wird der Sturmwind sein Klagelied wehn, trüber die Sonne wird scheinen. Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht, zügellos drüber und drunter. Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.
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