Am nächsten Abend gehe ich das erste Mal auf den Straßen Japans laufen. Max ist auch dabei. Er ist zwar kein Läufer, doch er meint, dass er es einmal ausprobieren wolle, solange ich hier sei. Früher einmal war er Kapitän der Fußballmannschaft seiner Schule gewesen.
„Yorkshire-Meister“, sagt er stolz.
Wir beginnen gemächlich. Obwohl ich in den letzten Monaten wegen der Reise so gut wie nicht gelaufen bin, fühle ich mich aufgrund des Mangels an richtigen Mahlzeiten in der Transsib recht leicht und jogge gemütlich neben Max her.
Es ist kurz vor 23 Uhr, als wir loslaufen, doch es ist noch immer sehr schwül. Nach dem geschäftigen Treiben untertags sind die Straßen nun wieder zu ihrer nächtlichen Stille zurückgekehrt, die nur gelegentlich durch die Geräusche eines langsam dahinrollenden Autos oder Fahrrads gestört wird. Ein Mann auf einem Moped fährt langsam die Straße hinunter, während sein Hund an der Leine neben ihm herläuft.
Max erzählt mir, dass seine Frau einen ehemaligen Arbeitskollegen namens Kenji Takao kontaktiert hat. Takao war ein professioneller Läufer und hat gute Kontakte in der Ekiden-Szene. Außerdem besitzt er ein Amateurteam, bei dem wir mitmachen dürfen. Das erste Training sei kommenden Freitagabend in Osaka.
Als mir – noch in England – bewusst wurde, dass ich ja kein professionelles Ekiden-Team brauchen würde, wurde mir unser künftiger Wohnort in Japan ziemlich egal. Ich hatte noch immer die Hoffnung, mich bei einigen Teams vorstellen zu dürfen und eines davon zu überzeugen, mich mitmachen zu lassen. So war es eine Option, nach Tokio zu ziehen, wo es sehr viele Ekiden-Mannschaften gibt. Doch in den Augen meiner Familie war dies weniger ideal, denn wir müssten lange suchen, bis wir eine Wohnung fänden, die größer als eine Schuhschachtel wäre. Kyoto war die nächstbeste Option. Zwar gibt es dort weniger Ekiden-Teams als in Tokio, aber immer noch genügend. Abgesehen davon ist die Stadt nur zwei Stunden mit dem Hochgeschwindigkeitszug von der Hauptstadt des Landes entfernt, und unser Freund Max lebt auch hier und hatte angeboten, uns dabei zu helfen, uns einzuleben und mir als Übersetzer auszuhelfen. Zudem ist Kyoto eine wunderschöne Stadt und liegt nahe dem Berg Hiei-zan, der Heimat der berühmten Marathonmönche. Diese Tendai-Buddhisten nutzen das Laufen, um spirituelle Erleuchtung zu erlangen, und absolvieren 1000 Marathons über 1000 Tage – eine unglaubliche Herausforderung, die nur wenige Menschen jemals erfolgreich abgeschlossen haben. Ich wusste nicht, ob die Möglichkeit bestand, einen dieser Mönche zu treffen, doch ich hoffte, es zumindest versuchen zu können.
Interessanterweise ist Kyoto auch der Geburtsort des Ekiden-Sports. Während der Edo-Zeit (1603 bis 1868) liefen Kuriere mit Botschaften zwischen Tokio und Kyoto, der alten kaiserlichen Hauptstadt, hin und her. Sie hielten an Versorgungsstationen, die entlang des Weges verstreut waren, um sich auszuruhen und zu stärken. Dabei gaben sie die Nachrichten meist an andere Kuriere weiter, die dann den nächsten Abschnitt der Strecke liefen. Dieser Tradition entstammt auch die Idee des Ekiden.
Das Wort „Ekiden“ setzt sich aus zwei japanischen Schriftzeichen zusammen, nämlich aus dem Schriftzeichen für „Station“ (
) und dem Schriftzeichen für „weiterleiten“ (
). Um die Idee des Weitergebens einer Nachricht zu symbolisieren, tragen die Läufer ein Band über der Schulter, das Tasuki genannt wird und das immer an den nächsten Läufer übergeben wird. Der erste offiziell veranstaltete Ekiden-Wettbewerb startete im Jahr 1917 in Kyoto und führte über 508 Kilometer bis nach Tokio. Irgendwo in der Stadt gibt es eine Gedenktafel, die an den Start des Rennens erinnert.
Der letzte Grund, der für Kyoto sprach, war die Schule. In England gehen meine Kinder in eine Steiner-Schule, die einem anderen Lehrplan als konventionelle Schulen folgt. Wir hofften, dass ihnen, wenn sie in Japan auch in eine Steiner-Schule gingen, der Wechsel weniger schwerfallen würde und der Lehrplan etwas vertrauter wäre.
Steiner-Schulen gibt es auf der ganzen Welt. Auch hier in Japan. Eine der renommiertesten davon befindet sich in einem Vorort von Kyoto namens Kyotanabe. Also entschieden wir uns für diesen Ort.
Bereits nach 20 Minuten muss Max stehen bleiben. Er schwitzt heftig und hat Seitenstechen. Ich jogge ein wenig auf der Stelle, um zu sehen, ob er sich wieder erholt, doch er schüttelt nur den Kopf. Ohne zu sprechen, gehen wir langsam wieder zurück zu seinem Haus. Nach einiger Zeit kommt Max wieder zu Atem. Er erzählt mir, dass Kenji, der ehemalige Läufer, den seine Frau kennt und der ein Amateurteam besitzt, aus Kyotanabe stammt, dem Ort, in dem die Schule liegt. Er wäre quasi unser Nachbar, wenn wir dort hinziehen.
Bevor wir bei Max’ Haus ankommen, bleiben wir wieder bei dem Schrein stehen, trinken etwas von dem glasklaren Wasser dort und sammeln uns etwas. Am Eingang des Schreins befindet sich ein kleiner Kinderspielplatz. Ein junges Paar sitzt verlegen händchenhaltend auf einer kleinen Bank und versucht, so unauffällig wie möglich zu erscheinen, während Max zu den Schaukeln hinübergeht.
Er hatte mir von einem Freund erzählt, einem Yogalehrer, der ihm einige Tricks beigebracht hat. Und nun will er mir eines dieser Kunststücke vorführen. Max zieht sich auf die Querstange hinauf und dreht sich mit seinem Oberkörper nach vorne, bis seine Beine in die Höhe ragen. Mit konzentriertem Blick atmet er tief ein, schwingt seine Beine hinauf und über die Stange zurück wieder in die Startposition. Immer weiter rotiert er um die Stange und atmet dabei kräftig aus. Das Pärchen auf der Bank versucht, nicht hinzusehen. Nach ein paar weiteren Umdrehungen stoppt er und hängt mit dem Kopf nach unten von der Stange.
„Ein alter Sprinttrainer an der Uni hat mir einmal gesagt, wenn du zehn von diesen Schwüngen hintereinander machen kannst, kannst du die 100 Meter in unter zwölf Sekunden laufen. Schon für einen brauchst du eine Menge Kraft“, sagt er.
Darauf konzentriert er sich wieder und dreht sich noch einmal um die Stange, während ich zusehe. Dann lässt er sich wieder auf den Boden hinunter und wischt sich den Staub von den Händen.
„Ich bin ziemlich außer Übung. Im Moment schaffe ich nur sechs“, erklärt er.
Ein Haus in Japan zu finden, das man für länger als sechs Monate mieten kann, ist nicht so einfach für eine britische Familie. Ich habe von vielen Seiten gehört, dass Japaner nur ungern an Ausländer vermieten. Japan wird oft als ein homogener Inselstaat dargestellt, der nur sehr wenig mit Ausländern zu tun haben will. Für über 200 Jahre war es das Nordkorea der Welt und stellte das Ein- und Ausreisen unter Todesstrafe. Ein wenig von diesem isolationistischen Gedanken ist noch immer vorhanden. Vor einigen Jahren musste der japanische Verkehrsminister, dessen Aufgabe es unter anderem war, den Tourismus im Land anzukurbeln, zurücktreten, da er meinte, dass die Japaner Ausländer nicht besonders mögen. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage fand heraus, dass es Hunderte von Hotels in Japan gibt, die offen zugeben, ausländische Gäste abzuweisen.
2002 führte das Harvard Institute of Economics eine umfassende Studie durch, die zum Ergebnis kam, dass Japan eines der homogensten Länder der Welt ist. Das ganze Konzept von Japan als einzigartige, isolierte Insel wurde schon so oft von Japanern und Nicht-Japanern beschrieben, dass es sogar ein eigenes Genre dafür gibt: Nihonjinron . Dieses Konzept wird allerdings von einigen Gelehrten als veraltete Form eines kulturellen Nationalismus abgetan. Aber noch bevor ich in Japan ankam, stieß ich bereits auf unzählige Türen, die sich auf meiner Suche nach einem Ekiden-Team, dem ich beitreten könnte, vor meiner Nase schlossen. So wie Brendan Reilly es in seiner E-Mail geschrieben hatte: „Japan kann manchmal eine frustrierend verschlossene Gesellschaft sein.“
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