Auf der anderen Seite der Moskwa finden die Weltmeisterschaften im Marathonlauf statt. Ich möchte zusehen, doch ich habe meinen Kindern versprochen, dass ich ihnen erst Fahrräder miete. Endlich sind wir an der Reihe. Ein Schild in englischer Sprache weist darauf hin, dass Ausländer ihren Pass vorweisen müssen, und so lege ich dem Mann an der Kasse unsere Pässe vor. Ohne mich auch nur anzublicken, schüttelt er seinen Kopf und wendet sich den Wartenden hinter mir zu.
„Pässe“, sage ich. Vielleicht hat er sie ja nicht gesehen. Ich halte sie vor seine Nase, so, dass er sie sehen muss.
„Keine Ausländer“, sagt der Mann und bedient einen Kunden hinter uns.
Ich spüre eine gewisse, beinahe aggressive Frustration in mir aufsteigen. Keine Ausländer? Überall stehen diese Schilder, auf denen in Englisch geschrieben steht: „Willkommen beim Gorki-Park Fahrradverleih“ etc., etc. Wer stellt diese Schilder denn auf? Ich stehe hier schon seit einer Stunde mit drei kleinen Kindern bei brütender Hitze in der Schlange. Und ich verpasse den Marathon.
„Neue Regeln“, sagt er und blickt mich mit zugekniffenen Augen an, als wäre er überrascht darüber, dass ich noch immer hier bin.
Also gehen wir, enttäuscht und fluchend.
„Was ist denn los?“, fragen mich meine Kinder, verwirrt darüber, dass wir ohne Fahrräder abziehen. „Warum bekommen wir keine Fahrräder?“
Ich überlasse die Kinder meiner Frau Marietta, die ihnen ein Eis kauft, während ich mir meinen Weg durch die Massen in Richtung Marathon bahne. Wenn ich mich beeile, sehe ich die Führenden wenigstens noch kurz, wenn sie zum letzten Mal an dieser Stelle vorbeilaufen. Um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen, muss ich über eine Fußgängerbrücke. Ich laufe die Stiegen hinauf. Meine Kamera baumelt an meinem Hals, und mein Hemd ist durchgeschwitzt. Es hat 27 Grad. Ich weiß nicht, wie die es schaffen, einen Marathon bei diesen Temperaturen zu laufen.
Die Brücke ist voller Menschen, die in Richtung Park wollen. Überall sehe ich lange, nackte Beine. Unten am Flussufer liegt eine Frau oben ohne vor einer Bar und sonnt sich. Die Luft ist mit einer fast schon bedrohlich wirkenden Mixtur aus Reichtum und Anarchie schwanger. Hier trifft Sex in the City auf Mad Max . Oben auf der Brücke spazieren zwei Frauen lässig auf den riesigen gebogenen Stahlträgern, die die Brücke halten. Doch keiner scheint sie zu beachten, fast so, als ob dies ganz alltäglich wäre. Am höchsten Punkt des Stahlbogens setzen sie sich hin und genießen die Aussicht, während sich ihre langen Kleider wie Segel in der leichten Brise aufblasen.
Ich lasse das Gedränge hinter mir und steige eine Stahltreppe hinunter auf Straßenniveau. Die Straße ist abgesperrt und hier, auf dieser Seite des Flusses, ist alles ruhig. Aus ein paar dünnen Rohren wird Wasser auf den leeren Asphalt gesprüht, während eine Handvoll Leute geduldig an der Brüstung im Schatten der Brücke lehnen.
In einem kleinen Pavillon sitzen zwei Fernsehtechniker vor einem Pult mit elektronischen Geräten und einem Bildschirm. Auf dem Monitor ist eine kleine Gruppe Läuferinnen zu sehen. Eine Italienerin liegt in Führung. Dicht hinter ihr die üblichen Verdächtigen: eine Kenianerin, eine Äthiopierin und zwei japanische Athletinnen.
Ich behalte den Bildschirm im Auge und wünschte mir, dass ich etwas zu trinken dabeihätte. Währenddessen höre ich in der Ferne einen Helikopter. Das muss der Helikopter sein, der die Läuferinnen aus der Luft beobachtet. Von der anderen Seite des Flusses dringt der ausgelassene Lärm des Parks herüber.
Plötzlich stehen zwei Japanerinnen neben mir, so, als hätten sie sich gerade materialisiert. Beide tragen Jogginganzüge in den Nationalfarben Japans und unterhalten sich angeregt, während sie immer wieder gespannt die Straße in Richtung Helikopter hinaufblicken. Auf der anderen Seite der Straße beobachte ich, wie einige Leute eine japanische Flagge über die Absperrung hängen. Kaum sind die Läuferinnen in Sichtweite, beginnen sie mit ihren hohen Stimmen zu jubeln. Die beiden japanischen Frauen neben mir springen auf und ab und feuern ihre Teamkameradinnen an, als die fünf Führenden vorbeilaufen.
„ Gambare, gambare “, rufen sie, bevor sie davonrauschen, wahrscheinlich, um noch einen weiteren Blick an einer anderen Stelle der Strecke auf die Athletinnen zu erhaschen.
Es war übrigens meine Frau, die die Idee hatte, auf dem Landweg nach Japan zu reisen. Nachdem ich meine Familie für sechs Monate nach Kenia mitgenommen hatte, wurde ich mit Kommentaren überflutet, in denen immer wieder gesagt wurde, wie geduldig und verständnisvoll Marietta sein müsse. Die Leute scherzten oft, dass, wenn sie ihren Partnern so etwas vorschlagen würden, sie sich gleich auf eine Scheidung gefasst machen könnten. Was diese Leute allerdings nicht wussten, war, dass Marietta eine geborene Abenteurerin ist und ganz entzückt darüber war, nach Kenia zu ziehen.
Japan hatte anfangs jedoch nicht die gleiche Anziehungskraft auf sie. Vielleicht weil es nicht exotisch genug ist. Erst als sie die Idee hatte, über Land zu reisen, entwickelte sie richtige Begeisterung für das Projekt.
„Fliegen ist irgendwie komisch“, sagte sie. „Du wirst an einer Stelle in die Luft gehoben und an einem vollkommenen anderen Ort auf der Erde und in einer anderen Zeitzone abgesetzt. Das ist ein Schock für dein System. Und du erfährst nichts über die Zeit und den Raum, die Welt, die dazwischen liegt.“
Ihrer Ansicht nach fühlt es sich natürlicher an, die Welt über Land zu bereisen. Außerdem lieben die Kinder Züge. Es würde Spaß machen. „Denk nur an all die Orte, die wir am Weg besuchen werden.“
Ich blickte sie nervös an. Ich wünschte, ich wäre auch so begeistert davon gewesen, zusammen mit drei kleinen Kindern mehr als 14.000 Kilometer auf dem Landweg zu reisen, doch allein der Gedanke daran erfüllte mich mit Panik.
So bestieg ich an einem Montag Ende Juli mit feuchten Händen den Zug um 9:06 an der Tiverton Parkway Station in Devon und machte mich auf nach Kyoto, Japan.
Unsere Route führte nördlich der Ostsee durch Dänemark, Schweden und Finnland. Mit Kindern durch Skandinavien zu reisen, war eine wahre Freude. Als wir in Finnland den Zug von Turku nach Helsinki erwischen wollten, bemerkte die Dame am Ticketschalter, dass wir Kinder dabeihatten.
„Wollen Sie in der Nähe des Spielwaggons sitzen?“, fragte sie. Dort gab es eine Rutsche und eine Spielzeugeisenbahn, in der Kinder sitzen können, sowie eine Bücherecke. Die Zeit verging wie im Flug.
Das alles änderte sich schlagartig, als wir Russland erreichten. Kaum waren wir in Moskau angekommen, sah mich meine jüngste Tochter Uma an und sagte: „Paps, in Finnland hat es mir besser gefallen.“
Dabei hatten wir noch nicht einmal den Bahnhof verlassen. Ich wollte kein vorschnelles Urteil abgeben, aber ich wusste, was sie damit meinte.
Diese Vorahnung sollte sich in den nächsten Wochen bestätigen. Freundliches Service scheint in Russland ein Fremdwort zu sein. Die meisten Kellner und Bediensteten in Kaffeehäusern, Zügen oder an anderen Orten sind anscheinend der Ansicht, dass Gäste oder Kunden ignoriert und mit einem gleichgültigen Achselzucken bedacht gehören, sollten sie sich weiter dem Aberglauben hingeben, bedient zu werden.
Es ist ein glücklicher Zufall, dass wir just zur Zeit der Leichtathletikweltmeisterschaften in Moskau ankommen. Doch die Veranstaltung scheint am Großteil der Einwohner vorüberzugehen, auch wenn ich an der einen oder anderen Bushaltestelle ein paar wenige Poster, auf denen Usain Bolt zu sehen ist, erspähe. Wie sich herausstellt, ist Bolt, genauso wie Uma, auch nicht besonders begeistert von der Stadt. In einem Interview meint er: „Die Russen lachen nicht gerade viel.“
Читать дальше