Meine Kreislaufprobleme waren beinahe den ganzen Tag vorhanden. Ich hatte auch keinen Appetit mehr, ich kochte zwar für meine Tochter und meinen Mann, aber ich selber brachte keinen Bissen hinunter. Ab und zu versuchte ich sogar einen Löffel von Leons Babybrei, und das auch nur, damit ich überhaupt irgendetwas für meinen Magen unternahm. Ich hatte nämlich sehr wohl Hunger, ich hatte Lust auf meine geliebte Pasta, ich wollte Pizza bestellen und Gemüse kochen. Doch sobald ich ein bisschen davon auf der Gabel hatte, brachte ich die Gabel letztlich nicht mehr in den Mund. Ich wusste nicht, was mich blockierte. Es kam mir vor, als wäre ich zu müde, zu erschöpft, um zu kauen und zu schlucken. So kam es, dass ich zuerst einen Tag lang nichts aß, dann zwei Tage, dann drei Tage, bis schließlich mehr als eine Woche so verging. Dann schaffte ich es wieder einmal, ein paar Löffel Joghurt zu schlucken, mehr nicht. Auch das machte mich nervös, ich musste doch endlich wieder essen. Wie lange konnte ein Mensch ohne Nahrung überleben? Ich wusste, dass diese Frage natürlich etwas übertrieben war. Aber ich machte mir dennoch langsam Sorgen beziehungsweise wusste, dass ich endlich wieder einmal richtig essen sollte. Ich trank dafür sehr viel Wasser und erhoffte mir davon, dass es gegen meine Kreislaufprobleme half. Drei bis vier Liter an einem Tag waren es. Es gab Tage, da ging es mir etwas besser und ich funktionierte einfach. Aber im Hinterkopf war immer die schlimme Vorstellung: Was, wenn ich wirklich ohnmächtig würde und ich alleine mit den Kindern wäre? Mein Mann arbeitete die ganze Woche und ich war noch im Mutterschaftsurlaub.
Gleichzeitig war noch die Eingewöhnung in der neuen Krippe mit beiden Kindern in meinem Kopf. Das stresste mich schon im Voraus. Was, wenn es Lilly in der neuen Krippe nicht gefiel? Was, wenn sie die anderen Betreuerinnen vermisste und sich nicht auf die neuen und unbekannten Kinder einlassen wollte? Leon war auch noch einen Monat jünger, als es Lilly damals war, als sie in der Krippe startete, weil mein Mutterschaftsurlaub dieses Mal einen Monat kürzer war als der letzte. Die Eingewöhnung in der Krippe gestaltete sich so, dass man die Kinder brachte, anfangs als Elternteil noch etwas dort blieb und dann immer länger und öfter wieder wegging, sodass die Kinder lernten, auch ohne Mama oder Papa zu sein, aber dabei die Gewissheit hatten, dass sie wieder kommen. Lilly kannte den Krippenalltag ja bereits aus der ersten Krippe, für Leon war es neu. Sie machten es beide wirklich großartig. Aber für mich war es dennoch ein Stress: beide bereitmachen, beide hinbringen und dann nur für eine kurze Zeit wieder nach Hause oder einkaufen gehen, dann wieder abholen und schlussendlich zwei übermüdete und quengelige Kinder zu Hause beschäftigen, bis es abends wieder ins Bett ging. Ich wusste, dass die Eingewöhnung nur eine Phase war, und vor allem eine sehr wichtige, und deshalb wollte ich das natürlich auch gut überstehen. Die Kinder sollten nicht spüren, welche Gedanken und Sorgen ich teilweise hatte.
An einem Mittwochmorgen, als ich die Kinder in der Früh in die Krippe bringen wollte, hatte ich auch wieder auf der Autofahrt Kreislaufprobleme. Der Schwindel war schlimm und ich wusste, dass es eigentlich fahrlässig war, in diesem Zustand selber zu fahren, zumal ich auch noch meine Kinder dabei hatte. Was, wenn ich während der Fahrt ohnmächtig würde? Es gäbe einen Unfall, im schlimmsten Fall wäre es nicht nur ein Blechschaden, sondern es gäbe Verletzte. Meine Kinder könnten verletzt werden, ich könnte tot sein und sie würden mich verlieren, ihre leibliche Mutter. So, wie es mir passierte, als ich in Indien war. Während ich das erste Mal diese Tatsache so bewusst wahrnahm, kämpfte ich mit den Tränen und versuchte mich am Lenkrad festzuhalten und mich weiter auf den Verkehr zu konzentrieren. Ich stand an der Ampel und wusste, dass ich nur noch links abzubiegen hätte, dann läge die Krippe auch schon vor uns. Ich musste es schaffen. Aber ich wusste nicht, ob ich das tatsächlich konnte.
Irgendwie brachte ich diese zwei Minuten Autofahrt dann doch noch hinter mich. Die Krippenleiterin bemerkte sofort, dass es mir nicht gut ging, und brachte mir Wasser. Als ich ihr sagte, dass der Kreislauf mir Probleme machte, suchte sie nach Schokolade, Gummibärchen und Traubenzucker. Ich setzte mich vor die Krippe auf den Parkplatz. Lilly verstand natürlich nicht, weshalb ich morgens bereits Schokolade essen durfte und draußen saß. Sie blieb die ganze Zeit bei mir und freute sich wohl einfach über die Süßigkeiten. Ich wollte nicht, dass sie bemerkte, wie schlecht es mir ging. Doch mittlerweile wusste ich, dass ich ihr nichts mehr vorspielen konnte, auch wenn sie erst zweieinhalb Jahre alt war. Lilly kannte mich. Und ich kannte sie. Sie streichelte meinen Bauch und sagte, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, dass Lilly da sei und dass das Bauchaua weggehen würde. Ich müsste auf dem Sofa eine Pause machen. Ich war so unglaublich stolz auf meine Tochter, wie viel sie mitbekam und wie fürsorglich sie war. Aber es machte mir auch Angst. Ich konnte ihr nicht erklären, was ich hatte, und ich wollte ihr auf keinen Fall sagen, dass Mama traurig war. Mama war schließlich immer fröhlich und tröstete die Tränen der Kinder, wenn diese traurig waren. Ich traute mich nicht mehr nach Hause zu fahren, obwohl die Kinder ja für den Vormittag in der Krippe bleiben konnten.
Ich rief meinen Mann an und er musste kommen und mich nach Hause fahren. Ich war ihm sehr dankbar, auch dafür, dass er mir keine Schuldgefühle gab, weil er bei der Arbeit alles stehen und liegen lassen musste. Ich war vor allem froh, dass er mich dafür nicht verurteilte. Aussagen wie, dass es ja nur zehn Minuten nach Hause wären oder dass ich mich zu Hause jetzt ja ausruhen könnte, weil die Kinder betreut waren, hätten mir in dieser Zeit nicht geholfen. Ich war Dave sehr dankbar dafür, dass er Verständnis hatte. Aber ich selber hatte diese Gedanken und Schuldgefühle natürlich schon. Es tat mir alles so leid und ich wusste nicht, wie ich das alles erklären und entschuldigen konnte. Zu Hause war jedoch keine Rede davon, mich hinzulegen. Ich tigerte durch die ganze Wohnung und wollte endlich eine Erklärung dafür und eine Antwort darauf, was in mir vorging, weshalb ich plötzlich vor so vielen Dingen Angst hatte. Ab diesem Tag hatte ich nämlich auch Angst, in ein Auto zu steigen. Und von selber fahren konnte sowieso keine Rede mehr sein.
Ich rief meinen Vater an. Er war vor einigen Jahren in die verdiente Frühpension gegangen und arbeitete deshalb nicht mehr. Er hatte seine ganze berufliche Tätigkeit dem Lehrersein gewidmet. Meine Mutter war auch Lehrerin, sie stand jedoch noch immer im Berufsleben. Manche dachten wohl: eine Lehrertochter, dann ist alles klar. Diesen Spruch hatte ich nämlich schon zur Genüge gehört. Ich hatte diese Aussage aber nie wirklich nachvollziehen können. Einen Bezug dazu gab es aber dennoch, diesen erkannte ich jedoch auch erst etwas später. Ich war froh, dass mein Vater Zeit hatte, um vorbeizukommen. Mein Vater war schon immer mein Vorbild gewesen. Oder wie man so schön sagt, ein Papa ist stets die erste Liebe einer Tochter. So war das auch bei mir. Ich liebte meinen Vater und sah zu ihm hoch, auch wenn ich heute selbst erwachsen und Mama war. An dieser Beziehung hatte sich nichts verändert, Papa ist und bleibt mein Held. Wie ich anfangs erwähnt hatte, bin ich adoptiert. Und somit ist er natürlich mein Adoptivvater und meine Mutter meine Adoptivmutter. Sie sind für mich meine Eltern, hatten mich groß gezogen, erzogen und mir ein Leben ermöglicht, dass ich nie hätte leben können, wenn ich damals, am 24. Februar 1994 nicht von ihnen adoptiert worden wäre.
Die Meinung meines Vaters war mir sehr wichtig und ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihm. Ich konnte ihn stets um Rat fragen und es erfüllte mich mit Stolz, seine Tochter zu sein. Ich wollte deshalb immer alles machen und erreichen, damit er stolz auf mich sein konnte. Ich liebe es auch, meinen Vater mit meinen Kindern zu sehen. Er ist ein stolzer und fürsorglicher Nonno. Meine Eltern nennen sich als Großeltern Nonno und Nonna für meine Kinder. Das tun sie, weil wir in der Familie italienische Wurzeln haben und sich das meiste eigentlich immer um Italien dreht. Angefangen natürlich bei meinem geliebten Fußballverein, der AS ROMA, über unser Landhaus im Piemont und meinem Nonno, der in Süditalien lebt. Ich genoss die Gespräche mit meinem Vater jedes Mal, wir konnten uns vieles erzählen, über Gott und die Welt diskutieren und philosophieren. Er konnte mir von seinen Erfahrungen erzählen und ich ihm davon, was mich beschäftigte. Auch an diesem Tag war das so. Ich erzählte ihm, wie es mir ging, und auch wenn ich oft nach Worten suchte, um ihm in irgendeiner Weise verständlich zu machen, was in mir vorging, konnte er mich verstehen. Er erzählte mir, dass auch er einmal eine solche Krise hatte, jedoch aus anderen Gründen wie bei mir. Gründe? Ich kannte meine Gründe ja gar nicht. Wenn ich gewusst hätte, wo das Problem lag, wäre ich dieses gezielt angegangen und hätte dafür eine Lösung gefunden, das wusste ich. So, wie ich nun mal jedes Problem anging. Mir ging es bald etwas besser. Es tat mir sehr gut, dass er bei mir war, und es war schön, von ihm verstanden zu werden. Am Nachmittag holten wir gemeinsam wieder die Kinder ab und abends ging er zusammen mit meinem Mann dann mein Auto holen, welches ja noch immer vor der Krippe auf dem Parkplatz stand. Einmal mehr musste man mein Auto holen, weil ich nicht nach Hause fahren konnte.
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