Im Spital angekommen, wurde ich von der Trage auf ein Spitalbett umgelegt und erhielt nun auch eine Schutzmaske. Wie konnte man mir eine solche Maske aufzwingen, unter welcher ich noch weniger Luft bekäme? Es ging mir dabei nicht darum, dass ich mich gegen das Tragen der Maske im Kampf gegen das Coronavirus weigern wollte, ich hielt mich stets an alle Vorschriften. Aber in diesem Moment, in dem ich dachte, dass ich aufgrund von Sauerstoffmangel sterben würde, fand ich die Maske dann doch sehr fragwürdig. Ich verstand nicht mehr viel. Ich sollte das Herz nochmals kontrollieren, den Oberarzt kurz sehen und dann würde ich sofort meinen Mann anrufen, damit er mich so rasch wie möglich wieder nach Hause holen konnte. Das war mein Plan. In der Notfallabteilung wurde ich in ein separates Abteil geschoben und der sterile, duschähnliche Vorhang zum Flur wurde zugezogen. Eine junge Frau kam herein und ersetzte die Infusion mit einem neuen Beutel. Die Schmerzmedikamente wollten noch immer nicht wirken. Ich hatte nach wie vor sehr starke Magenschmerzen. Ich riss mich jedoch zusammen, damit wir kurz miteinander sprechen konnten. Sie wollte wissen, wie hoch mein Gewicht war und ob ich genügend aß.
Ich sagte ihr, dass ich mein aktuelles Gewicht nicht kannte, da ich sehr selten bis fast nie auf einer Waage stand. Ich war schon immer sehr schlank und in meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit bis kurz vor der Schwangerschaft mit Lilly hatte ich immer sehr viel Sport betrieben. Ich war im Leichtathletikverein, in einer Tanzgruppe, war viel Joggen und bis vor wenigen Jahren noch immer aktiv in einem Fußballverein tätig. Sport war mir immer sehr wichtig gewesen, nicht der Figur halber, sondern weil es mir mental guttat und Sport für mich sehr interessant war. Bis heute verfolgte ich am meisten jedoch Fußball. Seit 1998 bin ich Fan des italienischen Fußballclubs AS ROMA und war fasziniert vom Talent des römischen Fußballgottes Francesco Totti. Leider spielt Totti nicht mehr aktiv Fußball. Für mich gab es aber immer nur den einen wahren Captain der ROMA und das war nun mal Totti. Mein Vater zog mich früher immer auf, weil ich so ein begeisterter Fußballfan war und Totti so bewunderte und für ihn schwärmte. Ich hatte unzählige Fußballartikel und in meinem Zimmer zu Hause bei meinen Eltern die ganzen Wände damit tapeziert. Fotos und Zeitungsartikel, Fußballbilder, die sogenannten Paninibilder, und Schals, Trikots und andere Accessoires. Natürlich alle in den Farben der ROMA, der Giallorossi. Ich weiss immer noch, dass ich mein erstes Fußballtrikot von meinen Eltern geschenkt bekommen habe. Wir hatten es in Luino auf einem italienischen Markt gekauft. Wir waren wie sooft im Tessin in den Ferien, weil wir dort ein Ferienhaus hatten. Genauer gesagt, gehörte es meinen Großeltern. Wir verbrachten fast jede Ferien in der kleinen Ortschaft in den Hügeln von Bogno. Von dort aus war es nicht mehr weit über die Grenzen nach Italien. Und wie ein italienischer Markt es so an sich hatte, gab es dort alles, was man brauchen wollte und konnte. Mich interessierten dabei aber immer nur die Händler und Marktstände mit den Fußballtrikots. Dafür gab ich mein ganzes Taschengeld aus. Das war nicht viel, im Vergleich zu anderen in meiner Klasse. Ich war oft neidisch, weil meine Schulfreunde mehr Taschengeld besaßen. Irgendwann war ich jedoch froh darüber, denn so lernte ich schon sehr früh, mit Geld umzugehen.
Das war einer der Gründe, weshalb ich immer auf alles sparen konnte, ohne dabei Kredite auf mich zu nehmen und in Schulden zu geraten. Ich hatte auch noch nie eine Mahnung, geschweige denn eine Betreibung, und meine allererste Geldbuße aufgrund von Geschwindigkeitsübertretung hatte ich diesen Mai. Ein paar Wochen später wusste ich es dann doch etwas besser. Es war die Mrs. Perfektionismus in mir, welche mich zu diesem korrekten Verhalten gezwungen hatte und welche mir auch noch einen gewaltigen Stein in den Weg legen sollte.
Ich antwortete der Krankenschwester, dass ich heute zwar noch nichts gegessen habe, aber eigentlich sehr gerne esse, ich habe jedoch eine sehr gute Verbrennung. Eine Gewichtszunahme, welche mir bewusst war und die man mir auch ansah, verzeichnete ich nur, als ich mehrere Monate in Australien war und mich mehrheitlich von Bier und Fastfood ernährte, und selbstverständlich in den beiden Schwangerschaften. Dennoch, das musste ich wohl zugeben, hatte ich nach dieser zweiten Schwangerschaft etwas Mühe mit meinem Körper.
Ich wusste durchaus, dass eine Schwangerschaft dem Körper vieles zumutet, schließlich erschafft er dabei auch ein wundervolles Wesen. Und nach einer zweiten Schwangerschaft war es auch klar, dass der Körper etwas mehr Zeit brauchte, um sich wieder zu erholen. Diese Zeit wollte ich mir und meinem Körper aus irgendwelchen Gründen aber nicht geben. Ich wollte so schnell wie möglich wieder so schlank sein wie vorher. Aus diesem Grund hatte ich im Frühling, kurz nach der Geburt von Leon, bereits wieder mit intensivem Sporttraining zu Hause begonnen. In den letzten Wochen war ich jedoch sehr müde und hatte es deshalb wieder vernachlässigt. Ich fühlte mich nicht dick, so meine ich das nicht. Und das war ich ja auch nicht. Ich fühlte mich in meinem Körper einfach nicht mehr wohl und fand mich selber somit auch nicht mehr schön.
Die Krankenschwester informierte mich, dass der Oberarzt jetzt vorbeikäme und sie sich verabschieden würde. Und, dass sie mir vergewissern könne, dass ich auf keinen Fall dick sei. Müde lächelte ich sie an. Sie wollte höflich sein. Und ja, ich wusste ja, dass ich nicht dick war und ich seit der Geburt bereits sehr viel abgenommen hatte, sogar überdurchschnittlich viel in einer solch kurzen Zeit, was wiederum eher ungesund war. Von Zufriedenheit war ich jedoch noch weit entfernt. Sie zog den Vorgang hinter sich wieder zu und ich war wieder alleine. Ich starrte auf die gegenüberliegende kalte weiße Wand.
Ich fühlte mich erschöpft, müde vom ganzen Tag, obwohl ich noch nicht annähernd das getan oder erreicht hatte, was ich mir mit meiner heutigen To-do-Liste vorgenommen hatte. Ich bemerkte auch, dass diese Nervosität nicht mehr vorhanden war. Und auch das Gefühl der Enge beim Schlucken war weg. Nur noch die muskuläre Verspannung im Brustbereich, wie die leitende Sanitäterin das so schön bezeichnen wollte, war noch da. Die schmerzte sogar noch sehr. Die Magenschmerzen waren auch besser, das Schmerzmittel schien endlich seine Wirkung zu zeigen. Ich war ruhig. Ich fixierte einen etwas dunkleren Flecken an der Wand, vielleicht war es auch nur ein Schatten. Wovon, habe ich aber nicht nachvollziehen können.
Und in dieser Ruhe und Stille offenbarte sich mir ein mir unbekanntes und neues Gefühl. Die vielen Gedanken, welche sonst in meinem Kopf herumrasten, waren ausnahmsweise nicht da. Ich wusste gar nicht, worüber ich mir in diesem Moment gerade Gedanken oder Sorgen hätte machen sollen. Tatsächlich war ich damit gerade ein bisschen überfordert. Üblicherweise hatte ich immer etwas zu studieren, planen, überlegen oder abwägen. „Es ist okay“, sagte ich leise vor mich hin und im nächsten Augenblick fragte ich mich dennoch, was ich damit genau meinte. Was war okay? Und ich fühlte, dass es der Gedanke war, zu akzeptieren, dass dies nun mein Ende war. Meine Zeit war abgelaufen. Lilly und Leon würden ohne mich groß werden, ohne mich ihre ersten Erfahrungen mit dem Leben machen, ohne mich das erste Mal am Meer sein und ohne mich Fußball spielen. Ich war traurig und Tränen überkamen mich unaufhaltsam. Aber es war okay. Es musste wohl so sein, weil ich die Kraft nicht mehr hatte. Die Kraft, um ein Leben zu führen und dabei nicht zu wissen, ob ich glücklich war und was mir fehlte oder was ich brauchte. Ich hatte die notwendige Kraft einfach nicht mehr. Und somit war es in Ordnung. Heute, an diesem 4. Juli, war es also soweit. Und ich wusste, dass alles gut werden würde. Es waren sehr traurige und schlimme Gedanken und noch heftiger war das fremde Gefühl, dass ich etwas hinnahm, ohne mich zu fragen, was ich tun musste, damit es anders würde. Diese Ruhe hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt. Ein Moment, in dem ich nichts tun musste, niemand hatte etwas von mir erwartet, ich wurde nichts gefragt und um nichts gebeten, ich hatte nichts zu tun und da war kein Gedanke, welcher mich hätte unter Druck setzen können. War es das Gefühl, das Menschen kurz vor dem Sterben begleitet? Wenn man sein Ende ohne Wenn und Aber hinnimmt und akzeptiert?
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