„Welche Strecke? So exakt wie möglich bitte.“
„Von dem markierten Platz aus in gerader Linie.“
„Sie haben die Leiche berührt?“
„Ja, um den Puls zu fühlen.“
„Und dann?“
„Sie genauer betrachtet. Die Verfärbung der Haut …“
„Geschenkt. Keine weitere Berührung mehr? Keine Veränderung der Lage?“
„Nein.“
„Und anschließend?“
„Ich bin zum nunmehr markierten Platz zurück, und zwar so gut es ging in meinen eigenen Fußstapfen.“
„Ja, ja. Gehen Sie und Ihr Begleiter zur Kellergasse und warten Sie dort auf mich. Ich muss hier meine Anordnungen treffen und bin dann gleich bei Ihnen.“
Simon Polt warf im Gehen einen Blick zurück in den taghell erleuchteten Weingarten. „So ein Theater!“
„Muss sein. Die Beweissicherung wird immer wichtiger. Und wir zwei könnten dabei nur stören.“
„Dieser Priml …, was ist der für einer?“
„Schwer zu sagen. Er war in Wien ein paar Jahre lang recht erfolgreich unterwegs und hat sich dann zu uns aufs Land versetzen lassen, kann sein, um hier einen noch längeren Schatten zu werfen. Aber ich weiß nicht, ob das die richtige Taktik war. Er tut sich schwer mit den Leuten, und der richtige Stallgeruch gehört eben auch dazu. Vielleicht lernt er es noch, klug ist er ja.“
Die beiden Männer warteten schweigend, bis Priml auf sie zu trat. „So, meine Herren! Nun zu Ihnen. Ist das Ihr Presshaus, Herr Kollege?“
„Ja.“
„Dann lassen Sie uns hineingehen, Licht kann nie schaden.“
„Tut mir leid, ich hab den Schlüssel nicht bei mir.“
„Eigenartig. Ein Weinbauer begibt sich des Abends in die Kellergasse und nimmt den Presshausschlüssel nicht mit.“
„Wie schon am Telefon gesagt: Ich wollte nur mit meinem Freund ganz kurz in den Weingarten. Soll ich den Schlüssel holen? Dauert gerade ein paar Minuten.“
„In denen Sie sich mit Ihrer Frau absprechen können.“
„Warum sollte ich?“
„Ja, warum? Nehmen wir eben mit dieser Straßenleuchte vorlieb.“
Priml schaltete ein Diktafon ein und klappte sein Notizbuch auf. „Ihre Personalien sind bekannt, Herr Kollege. Und Sie?“ Er schaute Polt fragend ins Gesicht.
„Simon Polt.“
„Lange Jahre Gendarm hier im Wiesbachtal gewesen! Ein geradezu legendärer Gendarm“, ergänzte Sailer.
„Darum ist er jetzt wohl keiner mehr? Doch darüber können wir auch später reden. Also weiter im Text. Adresse? Beruf? Geburtsjahr? Familienstand?“
Als Priml die gewünschten Informationen notiert hatte, wandte er sich wieder Norbert Sailer zu. „Jetzt möchte ich eines wissen: Was treibt Sie bei diesem ungemütlichen Wetter und auch noch in der Dunkelheit aus der behaglichen Wohnküche in den morastigen Weingarten?“
Sailer erzählte, Polt nickte bestätigend.
„Ich will Ihnen ja nicht nähertreten, Herr Kollege. Aber Sie sind schließlich auch Polizist. Kommt Ihnen diese … äh … Erklärung nicht ein wenig konstruiert vor?“
„Ich wollte einfach an die frische Luft. Und bei dieser Gelegenheit …“
„Gut. Kein Wort mehr darüber. Oder doch: Hatten Sie oder Ihre Frau keine Bedenken, dass Sie sich ohne zwingenden Grund im nassen Weingartenboden die Schuhe über und über schmutzig machen würden?“
„Darum sind wir ja auch am Rand geblieben, auf dem Güterweg.“
„Bis Sie dann aus einer plötzlichen Eingebung heraus mit Ihrer Taschenlampe den Weingarten abgesucht haben?“
„Nicht abgesucht. Nur im Weggehen schnell noch einen Blick darauf geworfen. Das tu ich eigentlich immer, alte Gewohnheit, auch bei anderen Weinbauern übrigens.“
„Und dieser … Farbklecks hat Sie dann so fasziniert, Herr Kollege, dass Sie …“
„Ja, von da an war dann der Polizist stärker als irgendwelche Bedenken.“
„Und Sie, Herr Polt, sind einfach hinterher. Was oder wer war denn da in Ihnen stärker?“
„Weiß nicht.“
„Und es könnte nicht so sein, dass Sie, Herr Kollege, oder Sie beide erwartet, befürchtet, geahnt haben könnten, was Sie bald darauf erblickten?“
Norbert Sailer lächelte andeutungsweise. „Nein. Es könnte nicht so sein, und es war nicht so.“
Jetzt lächelte auch Priml. „Nichts für ungut, meine Herren. Ich stelle einfach Fragen, die sich mir aufdrängen. Darf ich Sie bei Gelegenheit zu einem Gespräch in die Dienststelle bitten, Herr Polt? Man wird sich mit Ihnen zeitgerecht in Verbindung setzen.“
„Und warum reden wir nicht gleich?“
„Sie sollten die Art meines Vorgehens doch besser mir überlassen. Für heute ist Ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich. Haben Sie Dank, Herr Polt, und auf Wiedersehen!“
‚Haben Sie Dank, Herr Polt, und auf Wiedersehen.‘ Das war also die neue Art, mit Menschen umzugehen, mit einem gewesenen Gendarmen im Besonderen … Na ja, egal. Und jetzt war plötzlich Leben in der Kellergasse, grelles, aufdringliches Leben, weil einer gestorben war.
Polt ging rasch talwärts, die Hände in den Taschen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Als er das Haus von Norbert und Birgit Sailer erreicht hatte, sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen ihm unbekannten Polizisten stehen. Dieser Priml setzte sich ganz schön in Szene … Polt nahm sein Fahrrad, warf einen Blick auf das beleuchtete Küchenfenster und fuhr los. Als er zum Hof der Familie Höllenbauer kam, bremste er kurz, fuhr dann aber weiter, nahm am Dorfrand einen Güterweg, der durch weithin ebenes Land zum Grünberg hin führte und den Talrand entlang zur Kellergasse von Brunndorf. Im Presshaus von Friedrich Kurzbacher war kein Licht zu sehen, auch sonst war alles dunkel und menschenleer. Also zurück nach Burgheim. Etwa auf halbem Weg hielt Polt an und stieg vom Fahrrad. Hier war einer seiner Lieblingsplätze im Wiesbachtal. Drei große Kastanienbäume drängten ihre Stämme so dicht aneinander, dass sich ihr Laub im Sommer zu einer einzigen Krone verband. Ein Bildstock stand darunter, und da war auch einer der wenigen öffentlichen Brunnen zwischen den Weingärten, die noch funktionierten und hin und wieder benutzt wurden. In einiger Entfernung säumten die Lichter der Dörfer das Tal, und an den Hängen nach Norden zur Grenze hin zeichneten die Kellergassen lange Ketten kleiner heller Punkte in die Nacht. Polt hätte nie im Leben in einer Stadt wohnen wollen, in der es keine ordentliche Dunkelheit gab, nur schäbige Schatten und schmutzig-graue Finsternis.
Er fuhr dann doch nicht nach Burgheim, sondern lenkte das Fahrrad vorsichtig über einen holprigen Feldweg, erreichte Brunndorf, bog in die Hintausgasse ein und fand sich wie zufällig vor Karin Walters kleinem Haus wieder. Polt schaute auf die Uhr: Gegen elf … Ob er es wagen konnte?
Eigentlich schon, wenn er sein Anliegen bedachte – und es war ja noch Licht im Fenster. Er klopfte, Karin Walter öffnete die Tür. „Simon! Bist du neuerdings Nachtwächter im Viertberuf?“
„Nein, wär aber gar keine schlechte Idee. Du …, sag einfach, wenn ich ungelegen komm, und ich bin schon weg.“
„Du weißt gar nicht, wie gelegen du kommst!“ Sie stutzte. „Wie schaust denn du drein?“
„Werdende Väter schauen so.“
„Ja dann …, herein mit dir!“ Sie ging voran und wies auf einen Stapel bunt eingebundener Schulhefte. „Aufsätze, Aufsätze, Aufsätze! Also, mir reicht’s für heute. Komm, setz dich her da. Und jetzt zeig ich dir was. Möchte wissen, was du dazu meinst.“ Sie schlug eins der Hefte auf. „Bei uns daheim war das Thema. Schau dir an, was der Ulli geschrieben hat.“
Polt las leise vor. „Fantsiegeschichten von Ulrich Kaspar. Es war einmal eine Henne die aß zum Frühstück 6 Leibbrote und 4.000 Eier. Aber ein Wolf aß 300 Leibbrote und 40.000 Hüner. Und das war’s, Karin?“
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