Polt schaute ihn erstaunt an. „Du auch?“
„Ja, klar. Da gibt’s jede Menge Bosheit unter den Leuten, Hass, Neid, Gewalt, aber auch Wut und Verzweiflung, Stumpfsinn, Irrsinn, pervertierte Liebe, was weiß ich. Und dieses Höllengebräu gärt unter der schönen, ruhigen Oberfläche. Nur ab und zu reißt ein Loch auf und es passiert was. Wir dürfen dann den Dreck wegräumen, Simon, und dem Gericht sauber sortiert vorlegen. Und zwischendurch ist es fad und banal. Ach was. Da, schau her: Die Reben haben um diese Zeit noch nicht ausgetrieben. Aber du kannst auf den Rebschnitt hinweisen: Qualität oder Masse, das ist die Frage. Dreimal darfst du raten, wofür ich mich entschieden habe. Und dann wirfst du einen Kennerblick auf die Dicke der Stämme und verkündest, dass die hier sieben Jahre alt sind. Ja, und noch was: könnte natürlich sein, dass es Frostschäden gibt. Das sieht man so nicht.“ Sailer zückte ein Taschenmesser. „Zeit für einen scharfen Schnitt ins Auge, Simon. Klingt grausam, aber so nennt man die Stelle, von wo aus der Stock bald einmal antreiben soll. Erledigt! Schau her: schön grün innen! Braun wär ganz schlecht gewesen. So, das war’s, zurück ins traute Heim!“
Sailer ließ das Licht der Taschenlampe beiläufig über die Reben gleiten. Dann stutzte er. „Moment noch, Simon. Da hinten ist was, das nicht hierher gehört.“ Mit raschen Schritten ging er in den Weingarten. Polt folgte ihm zögernd. Dann blieb Norbert Sailer so plötzlich stehen, dass Polt gegen den Rücken seines Freundes stieß. „Keinen Schritt weiter! Da liegt einer. Tot, kann fast nicht anders sein. Und da ist verdammt viel Blut.“
Polt stand erschrocken da und fühlte sich in eine Vergangenheit zurückgestoßen, mit der er nichts mehr zu tun haben wollte. Verwundert beobachtete er, wie exakt und scheinbar ruhig Norbert Sailer reagierte. Als er keinerlei Anzeichen von Leben feststellen konnte, richtete er sich auf, griff zum Handy und informierte seine Dienststelle über den Leichenfund. Dann ging er langsam auf Simon Polt zu. „Bleib bitte, wo du bist. Wir zwei haben wahrscheinlich schon Spuren zerstört, als wir hierhergekommen sind. Aber das konnte ja keiner ahnen. An die zwanzig, dreißig Minuten wird es schon dauern, bis die Tatortgruppe da ist. Halten wir eben Totenwache.“
Norbert Sailers Gesicht war für Polt im Halbdunkel nur undeutlich zu sehen. Doch er glaubte einen Ausdruck wiederzuerkennen, der ihm von früher her vertraut war. Wenn’s gefährlich wurde, sperrte sein Freund die Gefühle weg, handelte nicht feig, nicht mutig, nicht im Zorn und nicht aus Mitleid, sondern einfach angemessen und zielführend – bis alles vorbei war und er wieder ein Mensch sein durfte, nicht nur Polizist. „Der Tote liegt schon länger da, Simon. Mehr als 48 Stunden jedenfalls. Die Haut hat einen fahlen, grünlichen Ton, das kommt von bestimmten Bakterien. Und er wäre nicht so bald gefunden worden, wenn nicht wir zwei … Ist ja fast nichts zu tun im Weingarten, derzeit.“ Sailer strich mit der Hand über einen Rebstock. Dann wandte er sich plötzlich ab. Er schwieg lange, und als er weiterredete, war seine Stimme leiser geworden. „Ich Idiot hab immer geglaubt, der Polizist und der Weinbauer hätten nichts miteinander zu tun. Aber es gibt immer wieder eine Lektion zu lernen. Und die hier ist deutlich. Der Kriminalfall, wenn’s überhaupt einer ist, wird irgendwann aufgeklärt sein, oder auch nicht. Mehr oder weniger Routine. Aber der Weingarten da – verdreckt, Simon, für immer verdreckt.“ Ein kaum merkliches Schulterzucken. „Gut, ich nehm’s zur Kenntnis. Aber muss dieser Mensch ausgerechnet hier sterben?“ Sailer richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Toten. „Wegschauen bringt nichts, Simon.“
Widerwillig nahm Polt das Bild in sich auf. Zwischen den Rebstöcken lag halb sitzend, in sich zusammengesunken, der Körper eines Mannes, der um die vierzig sein mochte. Keiner von hier jedenfalls: Leute, die so gekleidet waren, kannte Polt nur aus der Zeitung. Das dunkelblonde Haar war halblang geschnitten, das Gesicht wirkte weich, irgendwie knabenhaft. „Schaut nicht so drein, als ob er leiden hätte müssen, wie?“
Norbert Sailer gab einen Laut von sich, der vielleicht ein kleines Lachen war. „Das im Tod zur Maske gefrorene Grauen gibt’s nur in Kriminalromanen. Die Gesichtszüge erschlaffen nach dem Sterben. Übrigens ist die linke Pulsader aufgeschnitten worden, und eine scharfkantige, grüne Glasscherbe hab ich auch liegen gesehen – könnte von einer Weinflasche stammen.“
„Also Selbstmord?“
„Nur kein vorschnelles Urteil. Hast du den Mann schon einmal gesehen, Simon?“
„Nein. Du vielleicht?“
„Wenn ich das wüsste …, ich vergesse kaum je ein Gesicht und dieses hier …, irgendetwas löst es in mir aus. Konkret kann ich aber nichts dazu sagen.“
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„In der Ermittlungsarbeit so wie immer, da weißt du ja Bescheid, Simon. Hat sich wenig geändert, seit deiner Zeit. Komplizierter ist alles geworden, Intuition und Menschenkenntnis sind nicht mehr so gefragt. Und privat werd ich der Birgit beibringen müssen, dass sie mit einem Mordverdächtigen zusammenlebt.“
„Mach keine blöden Witze!“
„Ich mein’s ernst und es beunruhigt mich nicht. So ist das eben am Anfang einer Ermittlung. Und du kannst deiner Karin morgen was Spannendes berichten.“
„Schauergeschichten sind wahrscheinlich das Letzte, was sie derzeit von mir hören will. Sag einmal, kannst nicht die Taschenlampe ausschalten?“
„Und was der Simon nicht sieht, das gibt es nicht. Bist du eigentlich je erwachsen geworden? Die Taschenlampe bleibt eingeschaltet, damit uns die Kollegen schneller finden. Aber ich leuchte dir zuliebe woanders hin. Da, der Baum! Weingartenpfirsiche. Schmecken wie die saftigste Sünde. Gibt’s fast nur noch bei mir. Irgendwie sind wir beide von gestern. Ich als Weinbauer, du in jeder Hinsicht.“
„Sollst recht haben, Norbert.“
Die Männer schwiegen. Polt spürte kühle Feuchtigkeit auf der Haut, obwohl es schon gegen Mittag aufgehört hatte zu regnen. Er hob den Kopf. Die Wolkendecke war aufgerissen und ließ Platz für eine dünne Mondsichel und ein paar Sterne. Polt fragte sich, welcher Teufel ihn an der Hand genommen und hierhergeführt hatte. Und dazu noch dieses verdammte Warten. Er schaute talwärts, sah die Lichter von Burgheim und Brunndorf, ein paar Autos waren unterwegs, und da, endlich, ein blaues Blinken. „Sie kommen, Norbert!“
„Ja, dann!“
Bald näherten sich die Männer und Frauen der Tatortgruppe. Sailer neigte den Kopf zu Polt. „Bastian Priml leitet den Einsatz. Bezirksinspektor. Tüchtiger als er ausschaut.“
„Guten Abend, die Herren! Die Leiche?“, rief Priml vom Güterweg her.
Norbert Sailer richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe darauf.
„Welchen Weg haben Sie durch den Weingarten genommen?“
„Vom Güterweg aus, ungefähr, wo Sie jetzt stehen, hier her.“
„Dann markieren Sie bitte auf geeignete Weise die Stelle, an der Sie sich jetzt befinden, und folgen dem Weg, den Sie gegangen sind, zu mir.“
Sailer und Polt taten wie geheißen und standen dann vor Priml: ein kleiner, altersloser Mann, Hornbrille, Gel im schwarzen, glatt zurückgekämmten Haar. „Den Weingarten bis zur Leiche hin und so weit wie möglich darüber hinaus ausleuchten, bitte!“ Er orientierte sich mit raschen Blicken. „Sie haben den Toten entdeckt, nicht wahr, Herr Kollege?“
„Ja, erst mit der Taschenlampe vom Güterweg her – da war’s noch ein merkwürdiger Farbfleck im Weingarten.“
„Keine Romane bitte, wir reden nachher. Als Sie erkannt haben, dass da jemand liegt …“
„... habe ich den Simon …“
„Wen?“
„Meinen Begleiter aufgefordert stehenzubleiben und bin zum Fundort gegangen.“
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