Das Taufkleidchen und die Taufmütze hatte Mette sich bei der Bademutter gegen eine geringe Gebühr ausgeliehen. “Gretge“, so wollte sie ihre Tochter Margarethe rufen, war in ein besticktes Tuch, welches ortsüblich „Lure“ bezeich-net wurde, eingewickelt. Die Lure konnten sich die Taufeltern beim Pastor ausleihen, mussten aber auch dafür eine Gebühr bezahlen. An diesem Tag gab es gleich zwei Taufen, denn am Heiligen Abend waren zwei Kinder im Kirchspiel lebend geboren worden.
Claus hatte nicht viele Freunde im Dorf. Er war zwar ein Vollhöfner, der aber arm war, wie viele andere während dieser schweren Zeiten auch. Sein Freundeskreis wurde nach der Hochzeit noch kleiner. Das Verhältnis zu den Nachbarn, bis auf einen, hatte sich merklich abgekühlt. Das begann, als sich herumsprach, dass er eine auswärtige Frau, die auch noch aus Höperhöfen im Nachbarkirchspiel stammte, heiraten würde.
Es mangelte ihm deswegen an Paten. Er konnte die im Kirchspiel Scheeßel üblichen fünf Paten, bei einem Mädchen drei Frauen und zwei Männer, nicht zusammen bekommen. Er brachte nur drei Paten auf, und das waren ausschließlich Verwandte. Seine eigene Mutter, seine Schwester Anna Heitmann aus Bartelsdorf und sein älterer Bruder Peter. Diese brachten den üblichen Tauftaler mit, auch wenn sie ebenso arm wie er waren. Die Einquartie-rungen und das Marodieren von Tillys Truppen zu seines Vaters Zeiten hatte immer noch verheerende wirtschaft-liche Auswirkungen auf die Menschen der Region. Das Wüten des nunmehr seit 28 Jahren tobenden Krieges hatten auch hier im Dorf schwere Folgen hinterlassen. Dieser Krieg sollte erst zwei Jahre nach Gretges Geburt offiziell beendet erklärt werden, wovon hier aber noch keiner etwas ahnte.
Die Paten bereiteten sich im Pastorenhaus auf die Taufe vor. Wie in früheren Zeiten hielt die älteste Patin das Kind über das mittelalterliche Taufbecken.
In diesem Fall stand die eigene Großmutter Margarethe als Patin stolz in der Stube des Pfarrhauses. Der Pfarrer hatte keine Diele mit einem offenen Feuer, wie es die anderen Häuser üblicherweise hatten. Es verfügte über mehrere kleinere ungeheizte Kammern, eine Küche mit einem Vorratsraum und eine große Stube, die einen steinernen Kamin mit einem gemauerten Schornstein hatte, mit dem der Raum beheizt wurde.
Für die Bauern war dieser Luxus nicht möglich, denn Ziegel waren viel zu teuer und auch Feuerholz konnten sie sich nicht leisten. Bäume durften sie nicht ohne Genehmigung schlagen und das Pollholz, welches auf dem Waldboden lag, reichte nicht für alle Haushalte. Meist nahmen sie getrockneten Torf oder Heide zum Heizen und Kochen, mussten damit aber haushalten. So genossen sie den warmen Raum sehr, in dem auch Taufen an Tagen durchgeführt wurden, wenn es nicht Sonntag war oder das Geld zur Taufe in der Kirche vor dem Altar Gottes nicht reichte.
Als der Gottesdienst vorbei war, holte der Küster Johann Grelle die beiden im Pfarrhaus wartenden Familien zur Kirche ab.
Das Haus Gottes war heute besonders gut besucht, denn es war Weihnachten, und heute sollten zwei Menschen in das Buch des Lebens eingeschrieben werden, wozu es der christlichen Taufe bedurfte.
Die Scheeßeler Kirche war ein über 500 Jahre altes Gotteshaus, dem dieses Alter durchaus anzusehen war. Der Kirchturm aus gemauerten Felssteinen diente zugleich als Wehr- und Glockenturm. Die letzte Glocke war im Jahre 1636 gegossen geworden. Deren Vorgängerglocke war zu Tillys Zeiten von den katholischen Truppen mitgenommen und zum Gießen von Kanonen verwendet worden. Die Holzschindeln auf dem Dach hatte schon vor etlichen Jahren der neue Scheeßeler Pastor durch gebrannte Tonziegel ersetzen lassen. Im Inneren der Kirche waren die Wasserschäden sowie die notdürftig reparierten Schäden aus der Zeit der Kriegsgeschehen noch deutlich zu sehen. Die Kirche wurde damals befestigt und verteidigt. Sie diente auch als Soldatenunterkunft, während das Pfarrhaus von Offizieren als Hauptquartier genutzt wurde. Die kleinen Fenster waren mit den unterschiedlichsten farbigen Bleiglasfenstern ausgestaltet, welche die Wappen der Pastoren und Amtsvögte abbildeten. Die meisten hatten die rauen Zeiten unbeschadet überstanden. Das Altarbild aus dem 12. Jahrhundert, gemalt in Öl auf Holz war schön anzusehen. Es zeigte in der Mitte den gekreuzigten Sohn Gottes sowie rechts und links zwei gekreuzigte Männer. Am Fuße des Kreuzes standen die Mutter Maria und Maria Magdalena.
Auf dem Altar standen zwei eiserne Kerzenleuchter mit großen gelbweißen Weihnachtskerzen, deren Flammen ein warmes Licht über dem gesamten Gebetstisch verbreiteten. Die Leuchter hatte der alte Scheeßeler Schmied Johann Alvers gefertigt. Eine Orgel gab es in dieser Kirche nicht.
Die Kirchengemeinde war nach der Weihnachtspredigt in der Kirche geblieben. Sie saß auf den hölzernen Bänken mit den Brettern zum Knien, die, wie auch der Beichtstuhl, gleich rechts neben dem Haupteingang, noch aus katholischer Zeit stammten. Alle warteten neugierig auf die neuen Erdenbürger.
Zur Weihnachtszeit waren überall in der Kirche Kerzen aufgestellt. Sie leuchteten den Raum in einer anmutenden Art aus, die nicht nur Kinderaugen zum Staunen brachte. Nun warteten alle gespannt auf die Täuflinge. Der Küster geleitete die Paten, die die Kinder im Arm trugen, in die Kirche und führte sie zum am Altar stehenden Taufbecken.
Das hölzerne Taufbecken war reichlich mit Einlagen und Ornamenten aus Metall verziert, sowie mit einer versilberten Eisenschale versehen, welche das gesegnete Taufwasser enthielt. Den Beckenrand zierte die Inschrift: „Lasset die Kinderlein zu mir kommen denn solcher ist das Reich Gottes.“
VIII
Die alte Margarethe war sehr stolz und aufgeregt, würde doch ihre Enkelin im nächsten Moment auf ihren Namen getauft werden. Die anderen Paten standen um das Becken versammelt. Gretge sah in dem Taufkleidchen, auch wenn es nur geliehen war, für die Anwesenden himmlisch aus. Zuvor war der Knabe getauft worden, welcher am gleichen Tag wie Gretge geboren wurde. Nun war Gretge an der Reihe. Sie lächelte die umstehenden Menschen an, als sie die Taufe empfing. Beide Kinder waren während der Zeremonie ruhig geblieben und alle lobten, wie brav sie doch schon seien.
Anschließend gingen die Menschen ins Freie, aber dort war es noch kälter als in dem ungeheizten Gemäuer. Da sich die Leute aber bewegten, kam es ihnen nicht so vor. Sie gingen traditionell noch zu den Gräbern ihrer Lieben, die auf dem Kirchhof bestattet waren.
Die alte Margarethe ging mit der kleinen Margarethe, die sie warm eingepackt hatte, zu den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern und zeigte ihnen symbolisch das neue Familienmitglied. „Kieck Modder un Vadder, de Deern heet ok Gretge as du Modder, und dien Modder.“ Dann fasste Tietke sie liebevoll am Arm. Die Tränen in den Augen seiner Frau hatte er wohl bemerkt. Er führte sie zum Wagen, in dem schon die anderen saßen. Sie fuhren langsam, denn sie hatten sich eine Menge zu erzählen und brauchten fast eine volle Stunde, bis sie zuhause ange-kommen waren.
Auf dem Kirchplatz zerstreute sich die Gemeinde. Die meisten fuhren oder gingen nach Hause, wenige kehrten noch in den Amtskrug ein. Der Amtskrug und die wenigen Kirchenkötnerstellen, wie die des Schmiedes Christoph Wohlberg sowie des Krämers Johann Bellmann waren rund um die Kirche platziert.
Die kleine Tauffeier für Gretge fand im Haus in Westeresch statt. Anne und der Jungknecht Peter Indorf hatten das Feuer geschürt, um das Flett recht warm werden zu lassen. Die Tiere waren versorgt, das Mahl vorbereitet. Dabei hatte eine Nachbarin, die alte Sophia, geholfen. Sie war auf dem rechten Bein ein wenig lahm, nachdem sie vor etlichen Jahren durch die Bodenluke gefallen war. Glücklicherweise hatte sie sich dabei nicht das Genick gebrochen wie viele andere vor ihr.
Es war ein bescheidenes, aber gemütliches Fest, an dem außer der Familie nur noch der Nachbar Henrich Ratchen mit seiner Frau Sophia und Hibbel, die Bademutter, teilnahmen. Die alte Hibbel aus Westerholz konnte aber nicht lange bleiben, denn während der Feier wurde sie zu einer weiteren Geburt gerufen. Sie schnackte noch kurz mit der alten Margarethe, nahm das Taufkleidchen wieder an sich und ging nach draußen, wo schon der alte Großknecht Lewerenz mit dem Wagen auf sie wartete.
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