Aber vielleicht brauchte es Carlo für sein Selbstwertgefühl, auch etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Jedenfalls sprach Lina nie mit ihm darüber, es ging sie ja nichts an. Sie packte ihre Sitzungsunterlagen und den Protokollauszug von Carlo in eine Kartonmappe, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sitzungszimmer.
Es ging gegen 17.30 Uhr. Die Luft im Sitzungszimmer war verbraucht. Angela Legler, die als Präsidentin der AG KVK oben am Tisch saß, sah sich um.
»Noch Wortmeldungen?«
Niemand sagte etwas.
»Dann sind die Meinungen also gemacht. Wir stimmen ab.«
Die Kommission hatte die Linienführung des Fahrradwegs durch das Seefeldquartier diskutiert. Auf der mehrspurigen, dicht befahrenen Bellerivestraße kam ein Radweg nicht infrage. Es musste also entweder in der Dufourstraße oder der Seefeldstraße eine Lösung gefunden werden. Einfach war es nicht. Die Fläche, die zur Verfügung stand, war gegeben, Fußgänger, Autos, Räder mussten irgendwie aneinander vorbeikommen. Peter Spälti vom Raumplanungsamt hatte anhand von Skizzen erläutert, welche Varianten möglich waren. In der Seefeldstraße war der Platz auch wegen der Tramgleise eng. Besser sah es in der Dufourstraße aus. Aber die zweispurige Straße war nicht besonders breit, das Trottoir auch nicht, links und rechts hatte es, vor allem im oberen Teil, Restaurants, Geschäfte und Firmensitze. Der Zankapfel waren die Parkplätze. Würde man die aufheben, wäre Platz für einen Veloweg. Valerie Gut erklärte, wie wichtig es sei, in diesem langgezogenen Wohnviertel, in dem viele Familie lebten, eine durchgehende, sichere Radwegverbindung zu schaffen. Ruth Noser von der SP und der Grüne Simon Hefti plädierten für die Streichung der Parkplätze. Die Freisinnige Nora Beglinger und der SVP-Vertreter Heinrich Leuzinger, ein Gewerbler, waren strikt dagegen. Man müsse auch an die Restaurantbesitzer und Ladeninhaber in der Umgebung denken. Aber mit der Stimme der Präsidentin würde der Radweg siegen. Sie hatte sich in der Diskussion zurückgehalten, ihre Aufgabe war es, die Diskussion zu strukturieren und zu leiten, aber es war bekannt, dass die CVP in dieser Debatte eine fahrradfreundliche Haltung einnahm.
»Wer ist für die Aufhebung der Parkplätze zugunsten des Velowegs?«
Zwei Stimmen.
Valerie und Lina sahen sich über den Tisch hinweg überrascht an.
»Gegenstimmen?«
Drei Stimmen.
Angela Legler hatte dagegen gestimmt.
Ruth Noser und Simon Hefti warfen der Präsidentin befremdete Blicke zu und flüsterten miteinander. Heinrich Leuzinger strahlte.
»Wir werden bei der Verkehrskommission also beantragen, die Parkplätze in der Dufourstraße nicht aufzuheben. Für einen Fahrradweg muss eine andere Lösung gesucht werden«, erklärte Angela Legler ungerührt.
Valerie runzelte die Stirn. Es gab keine andere Lösung, das wusste Legler doch haargenau. Die Kommission hatte sich lange genug mit diesem Problem herumgeschlagen.
»Die Sitzung ist aufgehoben.«
Peter Spälti packte seine Unterlagen zusammen. Simon Hefti redete auf ihn ein. Spälti zuckte die Schultern. Es war nicht Aufgabe der Verwaltung, die Entscheide einer politischen Kommission zu kommentieren. Ruth Noser wandte sich an Nora Beglinger.
»Das kann ja wohl nicht das letzte Wort in dieser Sache gewesen sein, Nora«, drängte sie. »In eurer Fraktion gibts doch auch Leute, die einsehen, dass es ein durchgehendes Velowegnetz braucht in dieser Stadt.«
»Sicher, aber ihr von der Linken denkt einfach nie ans Gewerbe«, konterte diese. »Eure Klientel braucht auch Arbeitsplätze.«
Heinrich Leuzinger winkte Legler fröhlich zu und verließ das Sitzungszimmer.
Lina packte ihre Sachen, ging rasch zu ihr, legte ihr Mäppchen auf den Tisch und zog den Protokollauszug hervor.
»Hier besteht eine Unklarheit«, meinte sie und deutete auf die beiden Textpassagen. Angela wirkte nervös. Klar, sie wusste, dass von der CVP-Vertreterin ein anderer Entscheid erwartet worden war. Sie bemerkte, dass Ruth Noser darauf wartete, mit ihr zu reden, nahm Lina ungeduldig das Blatt aus der Hand, ohne genau zuzuhören, und überflog es.
»Ja, ja, schreiben Sie das so, wie es hier oben steht, das ist schon richtig«, sagte sie kurzangebunden und schob das Papier zurück in die Mappe. Lina sah auf. Valerie gab ihr ein Zeichen, sie würde draußen auf sie warten. Ruth Noser räusperte sich. Angela Legler schob Lina ihr Mäppchen zu und ergriff ihr eigenes. Offenbar hatte sie wirklich etwas von ihrer Kaltschnäuzigkeit verloren, das waren wohl die Nachwirkungen vom Samstag. Sie wandte sich ihrer Kollegin zu.
Noser galt im Rat als integrative Person, die stets das persönliche Gespräch suchte und die Fronten durch Kompromissvorschläge aufzuweichen versuchte. Es gab in jeder Partei einige, die Extrempositionen besetzten, polarisierten, die Fronten markierten. Dann gab es andere, die als Go-Betweens vermittelten, den Konsens suchten, die über die Burggräben hinweg zähe Kleinarbeit leisteten, um Einigungen hinzukriegen. Ruth Noser gehörte zu diesen. Es war, fand Lina, entschieden der härtere Job, als kämpferisch Extremforderungen zu stellen und sich um ihre Realisierbarkeit zu foutieren.
»Darüber sollten wir nochmals reden, Angela«, hörte Lina sie noch sagen, bevor sie ging. Draußen wartete Valerie auf sie.
»Was war denn mit der los?«, fragte Lina. »Weißt du, warum sie plötzlich umgeschwenkt ist? Ihre Fraktion wird keine Freude haben daran.«
Valerie schüttelte den Kopf. »An der letzten Sitzung vor drei Wochen sah es noch ganz anders aus. Vielleicht rächt sie sich damit für die Demütigung vom Samstag.«
»Das wäre dumm«, stellte Lina fest.
»Ja, aber vielleicht verlockend«, meinte Valerie. »Gehst du auch nach Hause?«
Valerie und Lina wohnten nicht weit voneinander entfernt.
»Nein, heute arbeite ich länger. Ich will mit dem Ratsprotokoll ein gutes Stück vorwärtskommen, weil ich ja noch dieses Sitzungsprotokoll schreiben muss. Carlo kann mir nichts abnehmen, der verliert ständig so viel Zeit damit, sich zu ärgern, dass er kaum vom Fleck kommt.«
Lina sah auf die Uhr. Fast 21 Uhr. Alle anderen waren längst gegangen. Fertig für heute, dachte sie, schloss das Dokument, beendete das Programm und stellte den Computer ab. Ob ich noch auf einen Sprung bei Valerie vorbeigehe? Oder ich könnte Hannes anrufen. Ach ja, ich sollte noch Carlo den korrigierten Protokollauszug hinlegen, der kommt morgen wahrscheinlich früher als ich. Sie öffnete ihre Kartonmappe. Eine Sekunde setzte ihr Denken aus. Verdammt! Was war denn das? Wie kam das hier hinein? Und wo war der Protokollauszug? Scheiße, das war überhaupt nicht ihre Mappe. Das war, das musste – Angela Leglers Mappe sein. Aber wieso lagen in Angela Leglers Kartonmappe sieben Tausendernoten? Trug sie ihr Haushaltsbudget mit sich herum? Kaum. Da war noch ein Zettel dabei, handgeschrieben: »Danke für dein Entgegenkommen. P.« Die Schrift kam ihr vage bekannt vor. Was für ein Entgegenkommen? Waren die 7000 Franken eine Belohnung für irgendein Entgegenkommen? Ging es hier um Bestechung? Um Erpressung? Oder einfach um eine Privatsache, die Lina nichts anging? Wer war P? Vielleicht war es gar nicht Leglers Mappe. Lina erinnerte sich an das Durcheinander an Leglers Platz nach der Sitzung. P. Spälti, der Raumplanungsexperte, hieß Peter. Hatte er Angela Legler 7000 Franken rübergeschoben? Das machte keinen Sinn. Aber niemand sonst in der Kommission hatte einen Namen mit P. Legler konnte die Mappe natürlich schon mit an die Sitzung gebracht haben. Was sollte sie jetzt tun? Esther Jenny anrufen? Nein, die saß wahrscheinlich in der Oper oder im Theater. Und sie könnte ja auch nichts machen. Angela Legler anrufen? Unmöglich. Das könnte ziemlich peinlich sein: Ach, Frau Legler, ich habe da 7000 Franken gefunden. Gehören die zufällig Ihnen? Überhaupt, jetzt war es schon gegen 21.30 Uhr. Diese komische Sache musste warten bis morgen. Plötzlich fühlte sich Lina nicht mehr wohl im Büro. Es war niemand mehr da. Aber irgendjemandem gehörte diese Mappe. Und dieser Jemand wollte sie bestimmt zurückhaben. War die Person schon auf den Gedanken gekommen, dass sie sich bei ihr befand? Lina schloss die Mappe mitsamt Inhalt in ihrer Pultschublade ein. Auf dem Heimweg würde sie Valerie anrufen. Sie schlüpfte in ihre Jacke und hängte sich die Tasche über die Schulter.
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