»Na«, fragte sie, »fühlst du dich besser?«
Er lächelte ihr zu. Nickte. Beim Abendessen war er missmutig gewesen, von einer gereizten Schweigsamkeit wie oft an den Tagen, an denen er für den Kantonsrat arbeitete. Er hatte wegen einer Nichtigkeit Fabian angefahren, der daraufhin unter Protest den Familientisch vorzeitig verlassen hatte. Ja, Carlo fühlte sich jetzt besser. Das Schreiben, die Stunden allein in seiner Mansarde machten ihn ruhig.
»Magst du auch ein Glas Wein?« Ingrid deutete auf die Flasche, Carlo holte sich ein Glas. Wenn man Ingrid gefragt hätte, ob sie ihren Mann liebte, hätte sie zweifellos mit Ja geantwortet. Carlo gehörte zu ihrem Leben, zu ihrer Familie, sie war froh, wenn es ihm gut ging. Aber sie wäre mit ihrem Leben ebenso klargekommen, wenn Carlo nicht da gewesen wäre. Das war ihr bewusst. Manchmal fragte sie sich, ob Carlo das ahnte. Vielleicht kränkte es ihn, aber sie konnte es nicht ändern. Sie wusste auch, dass er ohne sie schlecht zurechtkommen würde. Das war ein großes Ungleichgewicht, aber es war eben so. Besser, man sprach nicht darüber. Natürlich merkten das auch Fabian und Patrick, und Takt und Feingefühl in Bezug auf die Eltern waren nicht gerade die Stärken von Heranwachsenden.
»Sind die beiden da?«, fragte er, auf die Türen zu den Zimmern von Fabian und Patrick deutend.
»Fabian ist schon zu Bett gegangen«, sagte Ingrid. Sie verschwieg, dass seine Freundin bei ihm war. »Patrick ist noch mit Freunden unterwegs.« Fabian war 17 und ging ins Gymnasium, Patrick 19 und studierte Chemie an der ETH. »Du warst schon ziemlich schlecht gelaunt«, fügte sie hinzu. So aufbrausend Carlo war, von seiner Frau ließ er sich das sagen.
»Ich bewundere dich, wie ruhig du immer bleiben kannst«, meinte er seufzend.
Sie lachte. »Ich tobe mich eben tagsüber aus. Quäle meine Patienten.«
Ingrid war Zahnärztin und führte eine Praxis an der Löwenstraße. Eigentlich konnte Carlo nicht verstehen, was sie an diesem Beruf fand. Fremden Leuten, die Angst hatten, im Mund herumzufingern, konnte doch keinen Spaß machen. Aber sie war halt ein praktischer Mensch. Und Carlo hatte Verstand genug, um zu sehen, dass die ganze Familie, vielleicht vor allem er selbst, von ihrem Sinn fürs Praktische lebte. Nicht nur finanziell. Sie managte die Familie, organisierte den Haushalt, die Ferien, das diffizile Beziehungsleben zwischen den heranwachsenden Söhnen und einem Vater, der sich die meiste Zeit hinter eine Mansardentür zurückzog.
Die Wohnungstür ging auf. Patrick kam herein. Er schwankte leicht, offenbar war er mit seinen Freunden Bier trinken gegangen.
Er machte eine ironische kleine Verbeugung vor seinem Vater.
»Oh, der große Dichter ist von den höheren Gefilden in die Niedrigkeiten der guten Stube herabgestiegen.«
»Was fällt dir ein?«, rief Carlo.
»Patrick, bitte«, sagte gleichzeitig Ingrid.
Patrick grinste. »Easy. Bei welchem Kapitel bist du jetzt? Beim 487.?«
»Hör auf«, mahnte Ingrid, ärgerlich werdend.
»War nur ein kleiner Scherz, schlaft gut.« Patrick verzog sich.
Carlo starrte vor sich hin.
»Reg dich nicht auf«, Ingrid strich ihm übers dünn gewordene Haar. »Patrick ist ein Naturwissenschaftler. Er interessiert sich nun mal nicht für Literatur. Das musst du akzeptieren. Die beiden Jungs sind erwachsen, wir sind nicht mehr die großen, bewunderten Eltern.«
Carlo schwieg.
»Schau, du hast vor ein paar Tagen eine abfällige Bemerkung über sein Chemiestudium gemacht. Das war jetzt halt die Retourkutsche. Nimm es nicht zu ernst. Komm, gehen wir zu Bett.«
Irgendwann, dachte Carlo, wird mein Roman in den Buchhandlungen ausliegen. Er wusste, was die Rezensenten schreiben würden: »Beeindruckendes Zeitbild … überraschend neuer Blick auf die Gesellschaft des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts …« Ingrid würde es nicht verstehen, sein Buch, auch wenn sie sich auf fürsorgliche Weise darüber freuen würde; seine Söhne auch nicht, und das ganze tumbe Politikerpack im Kantonsrat erst recht nicht. Obwohl es denen gut tun würde, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen.
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