Hélène Miard-Delacroix / Andreas Wirsching
Von Erbfeinden zu guten Nachbarn
Ein deutsch-französischer Dialog
Reclam
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Umschlagabbildung: dpa / picture alliance
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961514-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011226-7
www.reclam.de
»Die Deutschen [sind] unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind: – sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen.« Diese von Friedrich Nietzsche 1886 gestellte Diagnose trifft recht gut den Geist der damaligen Zeit. 15 Jahre nach dem Deutsch-französischen Krieg war das Verständnis zwischen Frankreich und Deutschland erschwert und belastet. Und auch darüber, was überhaupt ›die‹ Deutschen und ›die‹ Franzosen damals waren und was sie heute sind, lässt sich trefflich diskutieren.
Dass sich der Deutsch-französische Krieg von 1870/71 nun zum 150. Male jährt, gibt einmal mehr Anlass, sich mit den Beziehungen beider Länder näher auseinanderzusetzen. Der Krieg und in seiner Folge die Gründung des Deutschen Kaiserreichs waren ein extrem einschneidendes Ereignis. »Dieser Krieg bedeutet die deutsche Revolution«, kommentierte der britische Premierminister Benjamin Disraeli, »ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts.« Tatsächlich war nach 1870/71 zwischen Frankreich und Deutschland nichts mehr so wie zuvor. Die Rahmenbedingungen ihrer Beziehungen hatten sich fundamental gewandelt. Zwar bestanden das Interesse füreinander und die kulturellen Beziehungen fort. Aber sie wurden von militärischem Argwohn und politischer Feindschaft überlagert. Schon zuvor bestehende Missgunst verstärkte sich und neuer Hass entstand.
Entsprechend kompliziert gestalteten sich die deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, und der Weg zur dauerhaften Kooperation, guten Nachbarschaft, ja Freundschaft war gesäumt von der bitteren Erfahrung erneuter Kriege und millionenfachen Todes. Stets war die Frage eines Einvernehmens zwischen beiden Ländern für die europäische Geschichte essenziell. Heute, inmitten eines Friedens in unsicheren Zeiten, gilt dies ganz besonders.
Auf den folgenden Seiten verfolgen wir in Form eines Dialogs die wichtigsten historischen Entwicklungen und prägenden Ereignisse in der Geschichte der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Das Format eines eintägigen lebendigen Gesprächs war ein lohnendes Experiment. Dabei ging es nicht darum, den Gegenstand einfach aus der ›französischen‹ und aus der ›deutschen‹ Sicht zu betrachten. Sich mit der Geschichte, Kultur und Mentalität des Nachbarn zu beschäftigen, ja sich in sie hineinzuversetzen, ermöglicht reziprokes Verständnis. Es war uns daher ein Vergnügen, gemeinsam Bekanntes neu zu beleuchten und Neues zu entdecken, auch wenn sich in diesem Rahmen eine volle wissenschaftliche Akribie natürlich nicht erreichen lässt. Für die thematische Auswahl und verbleibende Ungenauigkeiten übernehmen wir daher selbstverständlich die Verantwortung.
Dem Reclam Verlag danken wir für die Initiative zu diesem Buch sowie insbesondere dafür, dass er aus dem lockeren Gespräch einen lesbaren Text machte und die Drucklegung mit Umsicht begleitete.
Christina Holzmann und Isabella Radmann danken wir für das Mitlesen der Korrekturen.
Paris und München, im Juli 2019
Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching
»Deutsche« und »Franzosen«
Andreas Wirsching (AW): Kennst du den Witz von Monsieur Lagarde, der 1870 im Elsass lebte?
Hélène Miard-Delacroix (HMD): Hm, ich weiß nicht so genau …
AW: Lagarde ist ja ein relativ häufiger Name in Frankreich. Er lebte aber im Elsass, und 1871 wurde sein Name in »Herr Wache« übersetzt. Dann kam der Erste Weltkrieg, 1918 fiel das Elsass wieder an Frankreich zurück, und man nannte ihn nun »Monsieur Vache«. 1940, als das Elsass wieder von Deutschland beansprucht wurde, wurde aus ihm »Herr Kuh«. Was machte man also wohl 1945 aus ihm, als Frankreich das Elsass erneut zurückbekam? – »Monsieur Q«.
HMD: Oh, das ist ja traurig. Da hat er seine Identität völlig verloren. Außerdem ist Monsieur Q im Französischen auch noch ziemlich doppeldeutig.
AW: Schon ein armer Kerl, nicht wahr?
HMD: Insofern ist es nicht gerade eine lustige Geschichte für den Betroffenen, den armen Elsässer, der nicht mehr so genau weiß, wer er ist. Ist er Deutscher, ist er Franzose?
AW: Das ist genau die Frage: Was sind die Elsässer eigentlich? Das ist ja für die französische Geschichte ein wichtiger Punkt, genau wie für die deutsche. Darin steckt natürlich die Frage: Wovon reden wir eigentlich genau, wenn wir »Deutsche« und »Franzosen« sagen? Die Elsässer scheinen weder das eine noch das andere zu sein …
HMD: Der Historiker Heinrich von Treitschke hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts dargelegt – und meinte, aus der Forschung heraus beweisen zu können –, dass die Elsässer Deutsche seien. Er hat sogar behauptet, die Elsässer seien auch dann Deutsche, wenn sie es nicht wüssten oder nicht sein wollten. Für ihn gab es gewissermaßen eine unbewusste Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit. Das war damals das deutsche Verständnis dessen, was das Elsass ist.
AW: Das ist ein essenzialistisches Verständnis, ein Volksbegriff, der geradezu biologisch argumentiert und am Ende nicht mehr hinterfragt werden kann. Die Franzosen haben üblicherweise einen etwas anderen Nationsbegriff, wenn man zum Beispiel an den Philosophen und Historiker Ernest Renan denkt. Dessen berühmter Vortrag »Qu'est-ce qu’une nation?« (›Was ist eine Nation?‹)1 von 1882 ist bis heute eigentlich ein Klassiker und wurde vielfach nachgedruckt …
HMD: Das war seine Antwort auf den Nationalliberalen Treitschke, der die Bildung eines kleindeutschen Nationalstaats durch Preußen und die Annexion des Elsasses rechtfertigen wollte!
AW: Eine Antwort auf Treitschke, in der ein ganz anderer Nationsbegriff steckt. Renan stellt die Frage, ob die Nation eine Rasse sei. Doch das hält er für Unsinn, vielmehr seien die Nationen Mischvölker. Diese Mischungen speisten sich aus den verschiedensten Winkeln Europas, von einer Rasse im Sinne einer biologischen Abstammung könne keine Rede sein. Renan vertritt also genau die Antithese zu Treitschke. Ist es vielleicht die Religion, die eine Nation definiert?, so fragt er weiter. Auch diese Frage verneint er mit dem Verweis auf z. B. die Schweiz, in der es unterschiedliche Konfessionen gibt. Die Sprache ist für Renan ebenfalls nicht das Entscheidende, das finde ich interessant.
Also was ist es? Für Renan ist die Nation ein tägliches Plebiszit, also eine gewissermaßen zivilgesellschaftliche Entscheidung, wozu man gehören will. Wenn man das so sieht, waren die Elsässer natürlich in der Zwickmühle. Nicht immer wussten sie in der Geschichte, ob sie sich nach Frankreich oder nach Deutschland orientieren sollten, wenngleich die deutsche Herrschaft von 1871 bis 1918 sowie von 1940 bis 1944 eher unpopulär war.
Jedenfalls ist die Vorstellung, man heiße ursprünglich »Monsieur Lagarde« und ende als »Monsieur Q«, schon bitter. Kann man sagen, dass das elsässische Drama für die deutsch-französische Geschichte symptomatisch ist?
HMD: Ja, und im Grunde ist das Elsass ein typisches Kontaktgebiet. Wenn wir uns nämlich fragen: Wer sind die Deutschen? Wer sind die Franzosen?, wird klar, dass man dem Schicksal der Geografie nicht entkommen kann. Da sind zwei Nachbarn, die durch die Geografie zum Zusammenleben verurteilt sind und die eine gemeinsame Geschichte haben in dieser Kontaktzone. Dazwischen ist das Elsass tatsächlich diese Kontaktzone im Herzen Europas.
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