Der Übersicht halber seien die bisher diskutierten Quellen an dieser Stelle kurz aufgeführt: Knox verweist zunächst auf eine Szene in den Tusculanae disputationes , auf die 1931 schon W. P. Clark in einem kurzen Artikel aufmerksam gemacht hat:27 Im Zusammenhang eines Diskurses über Taubheit wird hier festgestellt, dass das Lesen von Liedtexten ( cantus ) mit größerer Lust verbunden ist als das Hören derselben ( deinde multo maiorem percipi posse legendis lego his quam audiendis audio voluptatem ; Cic.Cicero, Marcus Tullius Tusc. 5,116); „leises“ Lesen sei hier eindeutig vorauszusetzen. Knox betont, dass CaesarCaesar definitiv „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und insb. Briefe „leise“ gelesen hat;28 zudem dekonstruiert er den Versuch von Balogh, einzelne Stellen, an denen „leises“ Lesen explizit in den Quellen erwähnt wird, „wegzudiskutieren“ und sieht in ihnen umgekehrt Belege dafür, dass „leises“ Lesen durchaus praktiziert wurde:29 Aus Suet.Suetonius Tranquillus, Gaius Aug.Augustinus von Hippo 39, wo dokumentiert ist, dass Augustus als Ehrmahnung SchreibtafelnTafel/Täfelchen in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit „leise“ lesen lies ( quos taciti et ibidem statim legerent ), lasse sich nicht schlussfolgern, dass es sich hier um eine Ausnahme des „leisen“ Lesens handle.30 Bezüglich Hor.Horaz sat. 2,5,51–55; 66–69wirft Knox Balogh zu Recht vor, dass er hier zwei LeseszenenLese-szene in unzulässiger Weise vermische – an der ersten Stelle ginge es darum, dass ein Testament „leise“ mit den AugenAugen gelesen wird, weil es unbemerkt geschehen muss; tacitus legere lego ( 2,5,68) an der zweiten Stelle meine nicht wörtlich das „leise“ Lesen, sondern sei zu verstehen im Sinne von by himself, in peace . Auch die InschriftInschriften auf dem Apfel in der Geschichte von der Liebe des Akontios zu Kydippe (vgl. Aristain.Aristainetos 1,10,35–42), die Kydippe (bis auf das letzte Wort!) „lautLautstärkelaut“ liest und damit schwört, Akontios zu heiraten, sei gerade kein Beleg dafür, dass man generell „laut“ gelesen habe – das „laute“ Lesen ist hier der Inszenierung geschuldet, also eine narrative Notwendigkeit, zudem wird Kydippe explizit zum VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt aufgefordert (λέγε μοι, φιλτάτη, τί τὸ περίγραμμα τοῦτο Aristain. 1,10,35f); dass sie dann das letzte Wort nicht vollständigUmfangvollständig stimmlich realisiert, belegt die Fähigkeit, Texte auch ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung verstehen zu können.31 Vielmehr zeige gerade die Verarbeitung dieser Erzähltradition bei OvidOvidius, P. Naso (vgl. insb. epist. 20,1–5; 21,1–5.109–114.145–155), dass die Kompetenz, Briefe „leise“ zu lesen ( sine murmure legi lego , Ov. epist. 21,3), durchaus nicht ungewöhnlich war. Für methodisch höchst problematisch hält Knox zu Recht die Schlussfolgerung Baloghs, Plut.Plutarch Brut. 5belege, dass Briefe selbst in Versammlungen laut vorgelesen worden seien. Nichts in der Geschichte deutet darauf hin, dass es das „leise“ Lesen des kleinen BriefesBrief (… τὸν μὲν ἀναγινώσκεινἀναγιγνώσκω σιωπῇ) ist, den Caesar zugesteckt bekommt, was CatoCato der Ältere, Marcus Porcius in Aufruhr bringt. Plut. Cat. min. 24, wo die gleiche Szene ohne die Information des „leisen“ Lesens geschildert wird, zeige zudem, dass es sich um ein narrativ nicht entscheidendes Detail handle. Sodann führt Knox noch einige Beispiele aus attischen DramenDrama aus dem 5. u. 4. Jh. v. Chr. an, die eindeutig „leises“ Lesen implizieren: Eur.Euripides Hipp.Hippolytos von Rom 856–890; Aristoph.Aristophanes Eq. 117–128(s. u. S. 202); Antipanes, Sappho (fr. 194): Athen.Athenaios deipn. 10,73( 451a/b).32
Daneben hat M. Slusser die Diskussion um eine weitere Quelle bereichert: Kyrill von Jerusalem spricht in seinen Katechesen von einer Gruppe Frauen, die bei ihrem Treffen (σύλλογος) „stillLautstärkestill“ lesen (ἢ ἀναγινώσκων ἡσυχῇ), weil sie ἐν ἐκκλησίᾳ nicht reden dürfen, wenn sich hingegen Männer treffen, liest der eine ein nützliches BuchBuch (βιβλίονβιβλίον χρήσιμον) vor, während ein anderer zuhört (καὶ ὁ μέν τις ἀναγινωσκέτω, ὁ δέ τις ἀκουέτωἀκούω; Kyr. Hier.Kyrill von Jerusalem Procatechesis 14).33 Hier ist eindeutig belegt, dass „leises“ Lesen möglich war. Da es sich um eine normative Aussage handelt, ist es schwierig zu entscheiden, ob die Ausführungen zu den Männern die Regel darstellte oder ob die Normativität nicht dafür spricht, dass auch Gegenteiliges vorauszusetzen ist. Wie im Folgenden zu besprechen sein wird, gab es allerdings durchaus die soziale Erwartung, dass Texte in Gemeinschaft nicht „leiseLautstärkeleise“ gelesen werden sollten, um die Partizipation aller zu gewährleisten. Insofern kann man vorsichtig vermuten, dass „leise“ Lektüre in Gemeinschaft mit einem spezifischen Bedürfnis, in diesem Fall spezifischen Vorgaben, verknüpft war; das „lauteLautstärkelaut“ Lesen hingegen den Zweck erfüllte, andere partizipieren zu lassen. Aber auch Knox bleibt am Ende seines Aufsatzes bei der quantifizierenden Feststellung: „Ancient books were normally read aloud, but there is nothing to show that silent reading of books was anything extraordinary exept the famous passage from Augustine’s Confessions“34 – eine Stelle, die im Forschungsdiskurs auch nach dem Aufsatz von Knox einen zentralen Kristallisationspunkt gebildet hat.
Gegen den Forschungskonsens haben sich dann W. Rösler35 und F. D. Gilliard mit Bezug auf das frühe ChristentumChristentum,36 aber vor allem A. K. Gavrilov gestellt. Letzterer hat eine bedenkenswerte Neuinterpretation der LeseszeneLese-szene in Augustins Confessiones vorgeschlagen. Diese Neuinterpretation stellt die Beweiskraft dieser Hauptbelegstelle für die communis opinio einer generellen „lautenLautstärkelaut“ LesepraxisLese-praxis in der Antike infrage. Ausgehend von den Ergebnissen der psychologischen LeseforschungLese-forschung der 2. Hälfte des 20. Jh. stellt Gavrilov zunächst fest, dass das „leiseLautstärkeleise“ Lesen in transkultureller Perspektive ein anthropologisches Phänomen ist, das durch die Kompetenz des jeweiligen LesersLeser und weniger durch das jeweilige SchriftsystemSchrift-system determiniert wird .37 Gavrilov übernimmt aus der modernen Leseforschung für die Beschreibung antiker Lesetechniken die Unterscheidung von a) lautem (=vokalisierendemStimmeinsatzvokalisierend) Lesen, b) subvokalisierendemStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen (Lippen-, Zungen- und Kehlkopfbewegung ohne Lauterzeugung und „leisem“ (nicht-vokalisierendemStimmeinsatznicht-vokalisierend) Lesen, wobei nur letzteres als visuellvisuell-mentaler Prozess den Vorteil der schnelleren und diskontinuierlichenKontinuitätdiskontinuierlich Lektüre habe.38 Es sei falsch, diese Lesetypen als sich einander ausschließende Alternativen zu verstehen, vielmehr sei ein geübter Leser in der Lage, diese unterschiedlichen Typen je nach Bedarf zu variieren. Diesbezüglich rekurriert Gavrilov auf die in der experimentellen Lesepsychologie etablierten Kategorie der sog. eye-voice span (EVS), mit der die Lesekompetenz von Individuen in Bezug auf zusammenhängende Texte beschrieben werden kann. Die EVS bestimmt den Abstand zwischen dem gerade lautlich realisierten Wort und der vorausliegenden FixationFixation des Auges im Text. Sehr kompetente Leser können mit einer deutlich größeren eye-voice span lesen als weniger geübte Leser.39 Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2und Quint.Quintilian inst. or. 1,1,33f40 zeigen, dass in der Antike das Phänomen ante nomen zumindest punktuell reflektiert wurde. Die EVS sei auch für das „leise“ Lesen relevant, da ein Zusammenhang zwischen einer Art inneren StimmeStimme und den Fixationspunkten der AugenAugen bestünde. Für das „leise“, schnellere Lesen (insb. von Texten geschriebenSchriftGeschriebenes in scriptio continuaSchrift scriptio continua ) sei lediglich ein geübterer Leser mit einer größeren eye-voice span notwendig.41
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