Insgesamt ist zu kritisieren, dass durch die extreme Fokussierung auf den Aspekt der MündlichkeitMündlichkeit der Quellenbefund nur selektivUmfangselektiv wahrgenommen wird und viele, in dieser Studie zu besprechende, Facetten antiker LesepraxisLese-praxis unbeobachtet bleiben. Bei aller Kritik insbesondere an der sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rekonstruktion antiker Lesepraxis im Rahmen der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist schon hier zu betonen, dass damit nicht in Frage gestellt wird, die RhetorikRhetorik neutestamentlicher Texte zu untersuchen.33
Zuletzt schlussfolgert aber auch Hurtado aus dem handschriftlichen Befund (v. a. aus den sog. readers’ oder reading aidsLese-hilfe (reading aid) ) wie aus dem NT (insb. Mk 13,14Mk 13,14 parMk 13,14 par; Lk 4,16Lk 4,16–21Lk 4,16–21; Act 13,15Act 13,15; 15,21Act 15,21; 17,10 fAct 17,10 f; 1Thess 5,271Thess 5,27; Kol 4,16Kol 4,16; Apc 1,3Apc 1,3), dass im frühen ChristentumChristentum Texte „most often in group-settings“34 gelesen, d. h. vorgelesen worden wären.35 Damit setzt er gegen die These besonderer performativer Lesungen, die ohne Textmedium ausgekommen wären, eine andere (allerdings nicht mehr weiter entfaltete) monosituative Verortung frühchristlicher LesekulturLese-kultur, an denen sich auch die Monographien von D. Nässeqvists (2016 erschienen) und B. J. Wrights (2017 erschienen) orientieren.
1.1.3 Public Reading/Communal Reading
D. Nässelqvists Studie setzt sich zwar insofern von der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ab, als er die Kritik Hurtados aufnimmt, die einseitige These der Performanz auswendiggelernterAuswendiglernen Texte problematisiert und die Materialgebundenheit frühchristlicher LesepraxisLese-praxis betont.1 Sein Erkenntnisinteresse liegt aber zuletzt auch darin, oralMündlichkeit delivery im Rahmen von public readingpublic reading events zu rekonstruieren.2 Dazu untersucht er zunächst die materiellenMaterialität Überreste antiker und frühchristlicher Lesepraxis in Relation zur PragmatikPragmatik des Lesens (Kap. 2), betont die Wichtigkeit von auf das Lesen spezialisierter Lektoren im Rahmen der antiken und frühchristlichen Lesepraxis (Kap. 3) und führt im Anschluss an M. E. Lees und B. B. Scotts Sound Mapping und zusätzlich gestützt auf Aussagen der antiken Rhetoriktheorie eine Methode zur Analyse des Klangs griechischer Texte ein (Kap. 4), die er dann exemplarisch an Joh 1–4Joh 1–4 vorführt (Kap. 5–8).
Ganz ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt B. J. Wright das Thema Lesen im frühen ChristentumChristentum in seiner 2017 erschienenen Studie „Communal Reading in the Time of JesusJesus“. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die m. E. sehr richtige Feststellung, dass Lesen insbesondere durch den starken Fokus der Forschung auf Oralitätsfragen weitestgehend vernachlässigt worden ist. Demgegenüber fordert er mit communal reading communal reading events eine neue control category und schreibt sich damit in einen Diskurs bezüglich bestimmter „‚quality controls‘ that must have been in place […] in order to account for the transmission of the earliest Jesus movement“ ein.3 Sein Erkenntnisinteresse liegt also vor allem darin, communal reading events als einen wichtigen Faktor in der Formierung und (textlichen) Überlieferung der Jesus-TraditionTradition zu plausibilisieren, wobei er jedoch betont, dass das Ziel seiner Studie zunächst darin liegt, zu belegen, dass communal reading events ein weit verbreitetes Phänomen im ersten Jh. n. Chr. gewesen seien.4 Weiterführende (und die eigentlich spannenden) Fragen, wie genau communal reading events die Transmission christlicher Traditionen im 1. Jh. steuerten u. ä., könnten dann erst auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage bearbeitet werden.5 Die Untersuchung selbst besteht dann aus einem Teil (Kap. 3f), in dem er die politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Bedingungen von communal reading events auswertet und auf einige sehr wichtige Punkte hinweist, die, insbesondere in der anglophonen neutestamentlichen Forschung, ein primär an „OralitätMündlichkeit“ ausgerichtetes Paradigma verfolgt, zuweilen nicht beachtet werden.6 Darauf folgt ein umfangreicher Teil, in dem er Quellen zu communal reading events in der paganen, jüdischenJudentum und christlichen Literatur, die er in das erste Jh. datiert, zusammenträgt (Kap. 5f). Am Ende resümiert er: „Overall, the findings show that communal reading events were more common and widespread geographically in the first century CE than the current academic consensus assumes.“7
Das zentrale methodische Problem der beiden Studien besteht darin, dass sie durch ihren Fokus auf communal reading communal reading events ihre HeuristikHeuristik enorm einschränken und ihre Thesen weitestgehend nur auf solchen Quellen basieren, die auf Vorleseszenen verweisen. Evidenzen für LesepraktikenLese-praxis jenseits von communal reading events bleiben hingegen völlig (bei Nässelqvist größtenteils) ausgeblendet. Schwierig ist außerdem, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, Nässelqvists These einer ubiquitären Verbreitung (und gleichsamen Notwendigkeit) sog. Lektoren, die für das Lesen bzw. die performativen Lesungen zuständig gewesen wären.8 Auch seine Thesen zum Zusammenhang zwischen dem hss. Befund und der Lesepraxis werden im Rahmen dieser Arbeit zu problematisieren sein. Zudem wird zu fragen sein, ob die von ihm untersuchten „phonologischenPhonologie“ Strukturen eines Textes zwingend in ausschließlicher Relation zu public readingpublic reading events stehen müssen. Bei der Arbeit von Wright kommt hinzu, dass er sämtliche Quellen, auch solche, in denen sehr unspezifisch von Lesen die Rede ist, konsequent seiner Kontrollkategorie zuordnet. Dabei missachtet er z. T. argumentative oder literarische Kontexte; zudem fehlt eine methodologische Reflexion der Schwierigkeiten, von literarischen Darstellungen von Lesepraktiken auf die sozial-historische Wirklichkeit zu schließen. So belegen einige Quellen, die er anführt, wahrscheinlich bzw. sicher keine communal reading events :
P. Oxy. 31 2592ist keine Einladung zu einem communal reading communal reading event , wie Wright suggeriert,9 sondern zu einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl im Serapeion. Ob dort gelesen wurde, geht aus dem PapyrusPapyrus nicht hervor. Wenn in Prop. Properz 2,24,1fgeschriebenSchriftGeschriebenes steht, Properz’ Schrift Cynthia werde überall auf dem ForumForum gelesen ( toto Cynthia lecta lego foro ), ist hier kein communal reading event und keine RezitationRezitation gemeint, sondern viele individuell Lesende, wie u. a. Prop. 3,3,19fzeigt.10 Diog. 12,1 ist nicht nur wegen der Diskussion um den sekundären Charakter der letzten beiden Kapitel des Diognetbriefes ( communis opinio ), schwierig; auch geht aus der Formulierung (selbst wenn man die literarische Einheit annehmen würde) keinesfalls hervor (s. u. Anm. 392, S. 468), dass ein communal reading event vorauszusetzen wäre.11 Inwiefern Pap 2[!],3 (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,39,8) ein communal reading event belegen sollte, bleibt mir völlig schleierhaft.12 Der dort in ungenauer englischer Übersetzung angegebene Text, der allem Anschein nach nicht im Griechischen geprüft wurde, gehört zudem zum einleitenden Rahmen Eusebs und nicht zum Wortlaut von PapiasPapias, sodass eine Datierung ins 1./2. Jh. falsch ist. Diese Kritik gilt auch für das als Fragment 7 aus dem Ebionäerevangelium angegebene ZitatZitat, das aus dem einleitenden Rahmen bei Epiphanius stammt (Epiph.Epiphanius von Salamis panar. 30,22,4) und das definitiv nicht auf gemeinschaftliches Lesen verweist.13 Auch seine Interpretation von Ps.-Apollod.Apollodor von Athen bibl. 3,5,8(52) als Beleg für ein communal reading event 14 basiert auf der ungenauen englischen Übersetzung durch J. G. FRAZER. Die auf S. 215 zitierte Stelle aus den Oracula Sibyllina belegt definitiv kein communal reading event (s. u. Anm. 75, S. 126) und ist auch nicht ins 2 Jh. v.–1. Jh. n. Chr. zu datieren. Der zitierte Satz stammt aus dem (eindeutig christlichen) redaktionellenRedaktion/redaktionell PrologProlog (Sib. prol.), der nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. entstanden ist.15 Wenn FrontoFronto, Marcus Cornelius in einem seiner Briefe an Antoninus Pius schreibt, dieser würde im TheaterTheater oder beim BankettSymposion ( convivium ) wiederholt lesen ( lectito lectito ; Front. ep. 4,12), so ist hier vermutlich eher gemeint, dass er für sich selbst liest.16 Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.
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