José Luis de Juan
Aus dem Spanischen von
Silke Kleemann
Für meinen Vater
Die Bienen auf dem Kaisermantel sind für mich ebenso geheimnisvoll, wie sie es für Childerich in seiner Mottenkiste und für Napoleon selbst gewesen sein müssen, ebenso unverständlich wie die Rätsel des Salomon oder die Gleichnisse des Evangeliums. Wir können nur an der Hoffnung festhalten, daß wir eines Tages wissen werden, was die Bienen für das Geschick des großen Kaisers und unserer alten Welt bedeutet haben, die seit seinem Verschwinden stetig tiefer in die Finsternis hinabsinkt .
Léon Bloy
Das Märchen von N. kommt mir gerade so vor wie die Offenbarung des Johannes: Es fühlt ein jeder, daß noch etwas drin steckt, er weiß nur nicht was .
Johann Wolfgang von Goethe
Kapitel 1 1 Mein lieber Andrea, Bonaparte hat gestern in Fontainebleau abgedankt. Mit dem Rücken zur Wand soll er versucht haben, mit gerade einmal zwanzigtausend Soldaten – vergeblich hatte er noch einmal so viele aus Italien angefordert –, auf Paris zu ziehen, wo ihn eine sichere Niederlage erwartet hätte. Die Generäle, allen voran MacDonald, haben ihm die nackten Zahlen vor Augen gehalten: eine halbe Million Männer standen gegen ihn. Doch was jetzt zählt: Er hat Elba angenommen, im Gegenzug für alles andere, außer seinem Kaisertitel (Kaiser von Elba!), den zu verwenden ihm weiterhin gestattet ist. Er wird die Insel spätestens in einer Woche und noch vor diesem Brief erreichen, den ich dir heute mit Vittorini via Livorno schicke. Wer hätte das gedacht! Über so viele Jahre haben wir seine Schritte voller Hingabe mitverfolgt, und nun kommt er in unsere Reichweite. Besser gesagt, in deine und die unserer Kameraden, denn ich bin mittlerweile zu weit weg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bonaparte es lange auf Elba aushält. Kaum einer will glauben, dass sein Ehrgeiz, der Welt zu dienen, nun erloschen sei. Wie sollte ein Mann von vierundvierzig Jahren, der Europa mehr als ein Jahrzehnt lang in Schach gehalten hat, die endgültige Niederlage hinnehmen? Nein, das hier ist ein taktischer Rückzug. Er hatte keine andere Wahl. Und Elba, das kannst du dir denken, war für ihn die am wenigsten schlechte Lösung von allem, was ansonsten noch im Gespräch war. Duvadier zufolge ging es um St. Helena und Nordamerika, und damit hätte man ihn für immer vom Schauplatz seiner Siege, aus seinem grenzenlosen Reich verbannt. Gewiss kann man ihn auf deiner Insel engmaschig überwachen: wer ihn besucht, welche Informationen er erhält, wie er sich auf der Insel bewegt. Doch wenn wir unsere Trümpfe geschickt ausspielen, kann er innerhalb weniger Stunden in Italien sein, um einen Aufstand anzuführen, oder nach einer Tagesreise auf einem schnellen Schiff in den Häfen von Nizza oder Cannes einlaufen. Sein Aufenthalt auf Elba wird nicht von langer Dauer sein, da bin ich mir sicher. Wir müssen überlegt, aber rasch handeln. Ich rechne fest damit, dich nächsten Monat in Pisa zu sehen. Bis dahin hast du bestimmt alle notwendigen Informationen beisammen, damit wir einen machbaren Plan schmieden können. Anselmo P. S. Vergiss nicht, mir von deinem Lavendelhonig mitzubringen, der Katarrh bringt mich noch um.
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Mein lieber Andrea,
Bonaparte hat gestern in Fontainebleau abgedankt. Mit dem Rücken zur Wand soll er versucht haben, mit gerade einmal zwanzigtausend Soldaten – vergeblich hatte er noch einmal so viele aus Italien angefordert –, auf Paris zu ziehen, wo ihn eine sichere Niederlage erwartet hätte. Die Generäle, allen voran MacDonald, haben ihm die nackten Zahlen vor Augen gehalten: eine halbe Million Männer standen gegen ihn.
Doch was jetzt zählt: Er hat Elba angenommen, im Gegenzug für alles andere, außer seinem Kaisertitel (Kaiser von Elba!), den zu verwenden ihm weiterhin gestattet ist. Er wird die Insel spätestens in einer Woche und noch vor diesem Brief erreichen, den ich dir heute mit Vittorini via Livorno schicke.
Wer hätte das gedacht! Über so viele Jahre haben wir seine Schritte voller Hingabe mitverfolgt, und nun kommt er in unsere Reichweite. Besser gesagt, in deine und die unserer Kameraden, denn ich bin mittlerweile zu weit weg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bonaparte es lange auf Elba aushält. Kaum einer will glauben, dass sein Ehrgeiz, der Welt zu dienen, nun erloschen sei. Wie sollte ein Mann von vierundvierzig Jahren, der Europa mehr als ein Jahrzehnt lang in Schach gehalten hat, die endgültige Niederlage hinnehmen? Nein, das hier ist ein taktischer Rückzug. Er hatte keine andere Wahl. Und Elba, das kannst du dir denken, war für ihn die am wenigsten schlechte Lösung von allem, was ansonsten noch im Gespräch war.
Duvadier zufolge ging es um St. Helena und Nordamerika, und damit hätte man ihn für immer vom Schauplatz seiner Siege, aus seinem grenzenlosen Reich verbannt.
Gewiss kann man ihn auf deiner Insel engmaschig überwachen: wer ihn besucht, welche Informationen er erhält, wie er sich auf der Insel bewegt. Doch wenn wir unsere Trümpfe geschickt ausspielen, kann er innerhalb weniger Stunden in Italien sein, um einen Aufstand anzuführen, oder nach einer Tagesreise auf einem schnellen Schiff in den Häfen von Nizza oder Cannes einlaufen. Sein Aufenthalt auf Elba wird nicht von langer Dauer sein, da bin ich mir sicher. Wir müssen überlegt, aber rasch handeln.
Ich rechne fest damit, dich nächsten Monat in Pisa zu sehen. Bis dahin hast du bestimmt alle notwendigen Informationen beisammen, damit wir einen machbaren Plan schmieden können.
Anselmo
P. S. Vergiss nicht, mir von deinem
Lavendelhonig mitzubringen, der Katarrh
bringt mich noch um.
Der Nebel, der meistens die Umrisse von Monte Argentario verschleiert, hat sich aufgelöst. Die Festlandlinie zeichnet sich klar und deutlich ab, gesäumt von einem feinen weißen Rand. Castiglione ist ein winziger weißer Fleck, der eine bloße Erinnerung an Castiglione enthält.
Es ist Sonntag. Bonaparte trotzt der Augusthitze, indem er in Arbeit abtaucht. Er steht über die Karte einer Insel gebeugt, inmitten von Zirkeln, Linealen und Bleistiften, und zieht mit erhobener Hand Linien. Hier und da macht er eine Notiz, in gedrängter, nach rechts neigender Schrift. Gestern hat er beschlossen, die Honigproduktion auf der Insel, angefangen beim größten Bienenhof, gründlich zu inspizieren. So hat er es seinem Sekretär Méneval mitgeteilt; doch schon vor Wochen stand dieses Vorhaben für ihn fest. Er weiß, dass ihn nur rastlose Tätigkeit, eine ausgeklügelte Strategie gegen die sich ausbreitende Langeweile, auf Elba am Leben halten kann.
Nicht einen Tag lang hat er sich erlaubt, die tückischen Wunden des Stolzes zu lecken. Er hätte bei all den Affronts verweilen können, die seine Feinde ihm zugefügt haben. Ganze Tage hätte er darauf verwenden können, den Hass zu ordnen, die Rache zu organisieren. War er etwa nicht gezwungen gewesen, sich als Kurier zu verkleiden und den Bock mit dem Kutscher zu teilen, um nicht an einer Wegkreuzung in der Provence vom Pöbel gesteinigt zu werden? Hatten sie ihn etwa nicht genötigt, seine Herrschaft über anderthalb Kontinente gegen die über eine winzige, vor dem toskanischen Festland gestrandete Insel einzutauschen?
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