Drei Faktoren haben wir demnach festgestellt, denen die Erhaltung jüdischer Gruppen auch bei rechtlicher Emanzipation zugeschrieben werden muß: die zeitliche Begrenzung aller bisher historisch gewordenen Emanzipationsprozesse, die Haltung der Umwelt und die jüdische Wanderung.
2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage
Wenn wir oben davon sprachen, daß vor dem Eintritt der deutschen Judenkatastrophe die allgemeine Situation der Juden vielfach zu unproblematisch und optimistisch gesehen wurde, so meinten wir damit im wesentlichen, daß man diesen Gruppencharakter übersah. Wir kommen nun zu den Folgen des Gruppencharakters und damit zur Problematik des Antisemitismus selbst.
Die üblichen Formen der gegenseitigen Reaktion von Gruppen sind in ihrer Bedeutung für den Antisemitismus wiederholt entwickelt worden 10. Gewöhnlich führte die Unterstellung des Antisemitismus unter den Oberbegriff der Gruppenfeindlichkeit zu der apologetischen Sicht, daß die Juden an der Entstehung des Antisemitismus völlig unschuldig seien. *Weniger zuversichtlich mußte demnach allerdings die Prognose für die Zukunft des Antisemitismus lauten, da schlechthin geleugnet wurde, daß er von seiten der Juden beeinflußt werden könne, es sei denn durch eine radikale Liquidation der Diaspora.
So fruchtbar es auch ist, den Antisemitismus unter der Kategorie der Gruppenfeindschaft zu betrachten – wir werden diese Betrachtungsweise noch sehr eingehend anzuwenden haben –, so enthält sie doch die Tendenz, einige wichtige Fragen zu vernachlässigen. Indem man in der Gruppeneigenschaft gewissermaßen ein Instrument zur Äußerung von Feindschaftsgefühlen sieht, die anderweitig nicht abzureagieren sind, und in der jeweiligen antisemitischen Ideologie einen reinen Vorwand, der in objektiven Tatsachen keine Stütze findet 11, übersieht man den Umstand, daß in dem Zusammenstößen heterogener Gruppen sehr wohl ein objektives gesellschaftliches Problem liegen kann. Schon daß man hier ein Phänomen wie den Antisemitismus ohne Berücksichtigung seiner historischen Erscheinungsformen auf einen einzigen allgemeinen Nenner bringt, kennzeichnet die Schwäche der Theorie. Wer zu leugnen versucht, daß die Existenz der kulturell noch weitgehend fremdartigen jüdischen Gruppe zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder die Existenz fortwährend frisch ergänzter fremdnationaler Einwanderungsgruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika echte gesellschaftliche Probleme darstellen, verstellt sich selbst den Einblick in die Zusammenhänge, die er zu durchleuchten versucht. Gruppenberührungen und Gruppenspannungen mögen ideale Entladungsmöglichkeiten für Haßgefühle bieten, die aus völlig anderen Quellen sich speisen, – ihre Bedeutung erschöpft sich jedoch nicht in dieser Eigenschaft.
Das Verhältnis einer Menschengruppe zu einer anderen dient nicht nur zur Entladung von Haßinstinkten fremden Ursprungs, es ist selbst die Ursache der Entstehung von Feindseligkeit. Sigmund Freud 12spricht davon als von einer Elementar-Tatsache: „Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeutschen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portugiesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat aufgehört uns zu verwundern … In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Abweichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung, sie umzugestalten, mit sich brächte. Warum sich eine so große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen wir nicht; es ist aber unverkennbar, daß sich in diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haßbereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Herkunft unbekannt ist, und der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte.“ In ähnlicher Weise sieht Trotter 13in der Ablehnung jeder Andersartigkeit die natürliche Auswirkung des von ihm angenommenen menschlichen Herdeninstinktes. *Das Glück der Identität des Individuums mit seiner Gruppe sei eine so wichtige gesellschaftliche Tatsache, daß in seiner Vollkommenheit und Unanfechtbarkeit geradezu die Kennzeichen des sagenhaften Goldenen Zeitalters gesehen werden müßten 14. Selbstverständlich führe sie zu einem Ausschluß Fremder 15.
Es bedarf nicht des Hilfsbegriffes „Herdeninstinkt“, um zu der in unserem Zusammenhang allein wesentlichen Feststellung zu kommen, daß der Kontakt zwischen einer in bestimmten Grundzügen einheitlichen Gruppe mit einer von ihr abweichenden zu psychischen Reaktionen führt, die der Störung einer vorher bestehenden absoluten oder relativen Ruhelage entsprechen. Es wird ein Prozeß ausgelöst, der durch Wiederanpassung an die neu geschaffene Situation zu einer Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts hinstrebt. Der neue Gleichgewichtszustand wird eine je nach dem Ausmaß der Störung größere oder geringere Verschiedenheit von dem vorher bestehenden aufweisen.
Der so bezeichnete Tatbestand ist der objektive gesellschaftliche Kern dessen, was wir die Judenfrage zu nennen gewohnt sind. Er ist nicht auf sie beschränkt, sondern tritt überall in Erscheinung, wo verschiedenartige Gruppen miteinander in dauernde lebensmäßige Berührung treten. Daß er auch der Judenfrage zugrundeliegt, ist ein Umstand, den die jüdische Apologetik manchmal zu übersehen geneigt war. Selbst Professor Hugo Valentin in seiner umfassenden Studie des Antisemitismus glaubt dem Problem Genüge zu tun, wenn er es wie folgt darstellt 16: „Es ist nicht so, daß eine Gruppe nach objektiver Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß eine andere Gruppe schädlich oder minderwertig sei. Das Primäre ist der Haß. Die vom Verstand gefundenen Argumente sind sekundär.“ Das ist weitgehend, aber nicht vollkommen richtig. Ein gesellschaftlicher Konflikt hört nicht deshalb auf zu bestehen, weil er nicht durch „objektive Prüfung“ ins Bewußtsein tritt, sondern weil durch spontanen Haß auf ihn reagiert wird. Die Haßreaktion, die übrigens in ruhigen Zeiten sehr häufig durch gemäßigtere Unlustgefühle ersetzt wird, schließt nicht nur nicht aus, daß ein echter gesellschaftlicher Konflikt vorhanden ist, sondern sie kann sehr wohl ein Zeichen für ihn sein, gleichgültig, wie stark sekundäre Rationalisierungen den Konflikt nachträglich entstellen.
Es gibt ein Streben nach Homogenität der eigenen Gruppe, das als eine Elementar-Tatsache menschlicher Vergesellschaftung anerkannt werden muß; ihm gegenüber wird jede sichtbar in Erscheinung tretende Existenz einer andersartigen Gruppe als eine Herausforderung empfunden 17. Dabei ist das Prinzip, das die Homogenität bestimmt, keineswegs immer mit dem ursprünglichen Organisationsprinzip der Gruppe identisch. So wurde etwa für größere politische Herrschaftsgebilde, die ihre Entstehung vielleicht dynastischen oder militärischen Ursprüngen verdanken, in Zeiten, die vorwiegend religiös bestimmt waren, die religiöse Homogenität als unerläßlich betrachtet; nach der Französischen Revolution verschob sich die Forderung der Homogenität auf das nationale Gebiet. 18In der Sowjetunion wurde zum ersten Male das Prinzip der Klassen-Homogenität proklamiert, und es ist sicher nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß auf den Anspruch nationaler Homogenität verzichtet werden konnte. Soweit es sich in neuerer Zeit um Staaten handelt, bei denen Staat und Nation auch nicht annähernd identisch sind, wie in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, aber auch in den deutschen Bundesstaaten vor der Reichsgründung, tritt eine staatliche Homogenität an die Stelle der nationalen. Es handelt sich dabei um von den Staatsangehörigen sozusagen freiwillig zu erfüllende Bedingungen, die über die Beobachtung der objektiven Rechtssetzungen hinausgehen und gerade auf diese Weise ein homogenes Staatsbewußtsein schaffen. Richard Thoma 19versteht es als eine „unbedingte, nicht nur durch rationale Berechnungen vermittelte Staatsbejahung“, ohne die auf die Dauer kein Staat zu existieren vermöge.
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