«Und du bist endlich mit Marcel zusammen», sagte Lea. «Nur ich bin alleine.» Sie liess die Mundwinkel hängen und tat so, als müsste sie weinen. Dann lachte sie und umarmte Selma.
Mit leichten Schritten und schönen Gedanken verliess Selma Leas Salon und ging Richtung Innenstadt.
Doch schon nach wenigen Metern hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. War das nicht Marcels Stimme? Selma drehte sich um und sah tatsächlich Marcel vor sich. Er trug die Uniform der Basler Verkehrs-Betriebe und strahlte sie an.
Selma gab ihm einen Kuss und fragte: «Warum bist du schon da? Wir haben doch erst in einer Stunde abgemacht.»
«Die Stunde ist längst vorbei, Liebste.»
Hatte sie tatsächlich so viel Zeit vor ihrem Kleider- und Schuhschrank vertrödelt? «Oh», machte Selma nur.
«Dein Kleid ist umwerfend.»
«Danke. Aber die Schuhe passen nicht.»
«Die passen bestens. Und du warst bei Lea. Deine grossen Wellen im Haar gefallen mir.»
Selma hängte sich bei Marcel ein und schlenderte mit ihm zur Confiserie Seeberger an der Schifflände. Dort bestellten sie sich je einen Latte Macchiato. Selma erzählte Marcel von Nellies Mail, von deren Absicht, mit ihrer Familie in die Schweiz zu reisen, und dass sie es einfach nicht fertigbringe, ihr zurückzuschreiben und sie einzuladen «Du sagst gar nichts», meinte Selma plötzlich.
«Ich komme nicht dazu.»
«Oh, der Herr Psychologe ausser Dienst ist beleidigt! Er hört sich lieber selbst reden.»
«Das weisst du ja, Liebste. Aber endlich sprichst du einmal über dieses Thema. Wenn du Nellie nicht schreiben möchtest, verstehe ich es. Vielleicht brauchst du einfach noch etwas Zeit.»
«Was würdest du tun?»
«Liebste, es gibt so viele Unklarheiten. Du hast doch damals in Engelberg selbst gefragt: Warum schickte dein leiblicher Vater Arvid Bengt seine Gemälde an deine Mutter just nach dem Tod deines Stiefvaters Dominic-Michel Legrand? Was wusste er wirklich von dir? Hat deine Mutter etwas verschwiegen? Es geht nicht nur darum, deinen Vater kennenzulernen, es geht auch darum, dich selbst und deine Mutter neu kennenzulernen.»
«Was würdest du tun?», fragte Selma geradeheraus.
«Ich würde Nellie und ihre Familie willkommen heissen.»
Willkommen heissen, wiederholte Selma stumm. Er wirkte so sicher. Sie spürte, wie sich ihre Zerrissenheit auflöste. Wie sich Gewissheit breitmachte. Gewissheit darüber, dass sie endlich den schwedischen Teil ihrer Familie kennenlernen sollte.
Selma schaute Marcel lange an, ohne etwas zu sagen. Sie lächelte. Denn sie hatte gerade noch eine andere Gewissheit erlangt. Die Gewissheit, dass Marcel immer noch ihr bester Freund war. Auch wenn er jetzt ihr Liebhaber und ihr Partner war. Selma legte ihre Hand auf Marcels Arm und sagte: «Danke.»
«Danke wofür?», fragte Marcel irritiert.
«Dass du für mich da bist.»
«Das ist doch selbstver…»
«Nein, ist es nicht», unterbrach Selma. «Danke für deine Freundschaft.»
Marcel wollte etwas sagen, doch Selma lehnte sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
«Wir wollen natürlich nicht stören, aber auf einen Kaffee hätten wir auch Lust.»
«Mama, Elin!», sagte Selma erstaunt. «Was macht ihr hier?»
«Ich war einkaufen», sagte Charlotte und stellte ihre zwei grossen Tüten auf den Boden. «Deine Schwester hat mich freundlicherweise begleitet.»
«Ist das ein Vorwurf?»
«Natürlich nicht, Liebes. Du hast schliesslich …», sie warf einen Blick zu Marcel, «… wichtigeres zu tun, als mit deiner alten Mutter durch die Läden zu ziehen. Ist es gestattet?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sich Charlotte neben Selma an den Tisch und zog ihren kurzen Rock über die Knie. «Hach, das tut gut.»
«Gut seid ihr da», sagte Selma und fuhr mit beiden Händen durch ihre Haare. «Ich habe euch etwas zu sagen.»
«Da sind wir gespannt», meinte Charlotte und lächelte Marcel an. «Bekommt das Haus ‹Zem Syydebändel› einen neuen Mitbe…»
«Mama», unterbrach Selma. «Wir werden bald Besuch bekommen. Ich werde Nellie und ihre Familie einladen.»
«Toll», sagte Elin sofort. «Endlich. Komm her, Selma.» Die beiden Schwestern umarmten sich lange.
Charlotte hüstelte, zupfte ein Taschentuch aus ihrem Jäckchen und tupfte sich die Nase. «Darf ich fragen, meine liebe Selma Legrand-Hedlund, wen du genau meinst, wenn du von Nellies Familie sprichst?»
«Liebe Maman Charlotte Svea Legrand-Hedlund», antwortete Selma ebenso förmlich, «ich meine damit Nellies Bruder, ihre Eltern und …» Sie hielt inne.
«Arvid Bengt Ivarsson», murmelte Charlotte und starrte auf den Tisch. «Nellies Grossvater. Dein Vater.»
Die Mail an Nellie war nun schnell geschrieben. Sie tat das Richtige. Davon war Selma überzeugt, auch wenn die Reaktion ihrer Mutter etwas seltsam war. Seit jenen Tagen in Engelberg, als Selma, Elin und Charlotte die lebenslustige Nellie kennengelernt und sich versprochen hatten, die familiäre Vergangenheit aufzuarbeiten, war nicht viel passiert. Selma bekam regelmässig Nachrichten von Nellie, schrieb ihr auch zurück, aber meistens nur sehr oberflächlich. Charlotte hatte einmal mit Arvid Bengt telefoniert, sich danach aber nie mehr gemeldet. Und Elins Fragen nach dem Stand der Dinge kamen bei den beiden anderen Legrand-Hedlund-Frauen nicht gut an. Selma und Charlotte verhielten sich so, als könnte diese Geschichte durch Nichtbeachtung aus der Welt geschafft werden. Ein Muster, das in der Familie Tradition hatte.
Doch jetzt war Selma froh, dass ihre Nichte nicht lockergelassen hatte. Und sie war Marcel und Lea dankbar für ihre klaren Worte. Und ein bisschen stolz war sie auch auf sich selbst.
Keine Viertelstunde, nachdem Selma die Mail geschickt hatte, antwortete Nellie bereits. Sie würde sich sehr freuen, Selma und ihre Familie anfangs August endlich wiederzusehen. Sie würde gleich die Flüge buchen und ein Hotel reservieren. Selma schrieb zurück, dass sie sich nicht um ein Hotel bemühen müsste. Sie würde das organisieren.
Selma öffnete den Kalender in ihrem Smartphone und sah, dass auch Marcel zu dieser Zeit Ferien hätte. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Selma und Marcel hatten sich vorgenommen, einige Tage gemeinsam und einige Tage getrennt zu verbringen. Warum eigentlich?, fragte sich Selma gerade. Weil sie es so gewollt hatte? Ja, so war es. Nun war sie aber froh, dass weder sie noch Marcel konkrete Ferienpläne hatten.
Selma hatte in dieser Zeit auch keine Aufträge. Der ganze Sommer war mau. Einige Werbeshootings gab es. Aber Selma hatte Lust, endlich wieder eine grosse Reportage zu machen. Doch die Verlage waren zurückhaltend mit der Auftragsvergabe. Waren Naturreportagen aus der Mode gekommen? Müsste sie sich wieder mehr auf Menschen konzentrieren?
Auf Menschen, die heiraten! Selma ärgerte sich erneut über den Auftrag, den ihr Jonas Haberer, ihr Hauptauftraggeber in Bern, zuschanzen wollte. Wie konnte er nur! Hatte er trotz seines politischen Netzwerks in der Schweizer Hauptstadt keine besseren Aufträge zur Hand?
Sie rief ihn gleich nochmals an.
«Selmeli!», schrie Jonas Haberer. «Ich wusste es. Du machst die Hochzeit. Weil bei dir sicher auch bald die Hochzeitsglocken bimmeln. Zwar bin nicht ich der Glückliche, aber …»
«Jonas!», unterbrach Selma. «Vergiss die Hochzeit. Kannst du mir wirklich nichts Besseres anbieten? Eine Reportage?»
«Nein. Tote Hose. Bei mir selbst sieht es schlecht aus. Wenn es so weitergeht, muss ich das Bier in der Ping-Pong-Bar anschreiben lassen.»
«Du willst nicht behaupten, dass du immer noch in dieser Spelunke in der Berner Matte verkehrst?»
«Nein, ich verkehre nicht, ich wohne mittlerweile dort», sagte Haberer und lachte kurz. «Ach, Selmeli», fuhr er fort, «all die Krisen, Nöte und Ängste auf der Welt. Es beelendet mich. Schliesslich kann ich nicht die ganze Welt retten.»
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