Die Frauen schwächelten. Das spürte er. Er müsste Eisschrauben anbringen und so seine Seilschaft sichern. Unbedingt. Rechts und links des Grats gab es nur Abgründe. Tödliche Abgründe. Die Wolken kamen sehr schnell näher. Carlo und die Frauen mussten sich wirklich beeilen. Denn der Abstieg über den Spallagrat würde nicht einfach sein. Und einen Sturm konnte er jetzt nicht gebrauchen. Also Schritt für Schritt weiter. Blick zurück. Alles schien in Ordnung zu sein. Doch sie kamen nur langsam voran. Zu langsam. Die untere Seilschaft näherte sich schnell. Und überholte.
War das nicht Benedetta, die da an ihm vorbeiging? Benedetta schaute ihn gar nicht an. Sie hielt nur ihren Rosenkranz in der Hand.
Ein weiterer Blick zurück. Die beiden Frauen, für die er verantwortlich war, stiegen langsam zu ihm hoch. Schritt für Schritt. Stetig vorwärts. Weiter. Wieder ein kurzer Kontrollblick nach hinten …
Carlo zuckte zusammen.
Die beiden Frauen waren nicht mehr da. Er zog nur das lose Seil hinter sich her.
Die Frauen waren einfach nicht mehr da.
Er schreckte auf. Die Sonne blendete. Wo war er?
«Carlo, willst du nicht nach Hause gehen?»
Er öffnete die Augen und schaute in das rundliche Gesicht der polnischen Serviceangestellten des Berggasthauses Diavolezza, mit der er immer ein bisschen flirtete. «Wie spät ist es?», fragte Carlo mit seiner rauen, etwas krächzenden Stimme.
«Du hast geträumt, mein Lieber», sagte die Polin mit ihrem charmanten Akzent und strich ihm sanft über die weissen Haare. «Die letzte Seilbahn fährt bald.»
Carlo fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nur geträumt.
Würde er eine solch schwierige Bergtour noch einmal schaffen?
Vielleicht. Aber die Frage stellte sich nicht mehr. Sie war durch diesen Albtraum gerade beantwortet worden. Der Herrgott hatte sie für Carlo beantwortet.
Sie war nackt. Und sie schwitzte. Ihre Brüste schmerzten. Ihr Bauch rumorte. Ihre Lippen waren spröde. Ihr Hals kratzte. Sie bekam keine Luft.
Marcel lag neben ihr und schlummerte friedlich. Selma stand auf, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und öffnete es. Sie genoss den herrlichen Ausblick vom dritten Stock ihres Hauses «Zem Syydebändel» auf das nächtliche Basel und den schwarzen Rhein. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, der Wasserstand war tief. Selma lehnte sich aus dem Fenster und spürte einen schwachen Luftzug. Sie genoss es, wie die leichte Brise durch ihre dunkelbraunen, halblangen, gewellten Haare fuhr.
Sie ging zurück, setzte sich auf die Bettkante und schaute sich um. Ihre Kleider waren im ganzen Zimmer verstreut. Die Espadrilles mit hohem Keilabsatz lagen auf dem Boden, die kurze Jeanshose ebenso, die weisse Bluse hing am Schlüssel des Kleiderschranks, String und BH lagen neben der Nachttischlampe. Selmas Haut war klebrig. Ich muss schrecklich aussehen! Zum Glück habe ich keinen Spiegel im Zimmer, dachte sie. Es gibt doch tatsächlich Menschen, die einen Spiegel im Schlafzimmer haben. Einen Wandspiegel oder einen Spiegelschrank. Oder sogar einen Spiegel an der Decke. Wie kann man nur? Sich selbst nackt sehen? Sich alle Problemzonen vor Augen führen? Sich beim Sex zuschauen? Himmel!
Sie legte sich zurück zu Marcel, schloss die Augen, öffnete sie kurz darauf wieder und starrte an die weisse Decke mit den Stuckaturen. Sie begann, die Ornamente, Röschen und Blätter zu zählen. Obwohl sie aus anderen schlaflosen Nächten wusste, wie viele es waren.
Sie zählte nicht lange. Nicht, weil sie einschlief. Selma nervte sich. Es war einfach zu stickig im Zimmer. Und es roch anders als sonst. Es roch nach Mann. Das war zwar nicht grundsätzlich falsch, aber bei dieser Hitze einfach zu aufdringlich. Selma stand erneut auf, schlich ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster zum Totentanz, dem kleinen Park mit der Predigerkirche vor ihrem Haus. Sie beobachtete die Blätter an den Bäumen des kleinen Parks. Sie bewegten sich kaum.
Eine kalte Dusche könnte helfen. Dann würde aber ihre Freundin Lea wach, die eine Etage unter ihr im zweiten Stock wohnte. Und auch Mama Charlotte im ersten Stock würde aufgeweckt werden. Schliesslich zischten die Wasserleitungen in diesem alten Haus ziemlich laut. Und weil kein Mensch um halb zwei Uhr morgens duschte, würden beide wissen, dass sie Sex gehabt hätten. Marcel und sie. Also Marcel mit ihr. Also Marcel. Sie hatte … Was hatte sie eigentlich? Klar, sie hatte mitgemacht, alles bestens, alles gut. Marcel war plötzlich so leidenschaftlich geworden. Sie wollte keine Spielverderberin sein, es war doch schön, dass er sie begehrte. Aber es war nicht so wie bei ihrem ersten Mal kurz vor Weihnachten in Engelberg.
Nein, ihr Liebesleben war nicht mehr so prickelnd. Und das machte Selma traurig. Was war passiert?
Zu gross die Frage. Selma schlüpfte in ihren Slip. Sie schloss die Schlafzimmertüre, verliess ihre Wohnung und stieg in die Mansarde, wo sie ihr Atelier hatte. Sie packte die Staffelei und trug sie die schmale Holztreppe hinauf auf die Dachterrasse. Dann holte sie Farben, Pinsel, Spachtel, die Palette, etwas Wasser und einen Lappen, schliesslich eine Leinwand und einen Hocker. Sie setzte sich, schaute hinauf zum Sternenhimmel und atmete tief durch. Hier draussen war die Luft einiges kühler als in der Wohnung.
Sie hörte leise das Rauschen des Rheins. Ein beruhigendes Geräusch. Selma schüttelte ihre Haare, tunkte den Pinsel in die blaue Farbe, tupfte ein bisschen Weiss dazu und begann, die Leinwand zu grundieren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt fröstelte sie. Wie damals in der Gletscherspalte auf dem Titlis.
«Liebste, du malst!»
Selma erschrak, drehte sich reflexartig um, sah Marcel – und musste laut herauslachen.
«Okay, du lachst», sagte Marcel trocken. «Lachen ist gesund. Psychohygiene und so.»
«Natürlich, mein …» Selma konnte sich kaum mehr erholen. «Mein Hobbypsychologe.»
«Psychologe ausser Dienst, ich bitte dich», sagte Marcel. «Also immer noch studierter Psychologe, aber als Tram- und Buschauffeur tätig.»
Selma wurde von ihrem Gelächter durchgeschüttelt.
«Warum lachst du eigentlich? Lachst du über mich?»
«Nein, natürlich …» Wieder prustete Selma drauflos.
«Also doch. Erkläre mir bitte, was an mir so lustig ist.»
Selma legte den Pinsel beiseite, putzte ihre Hände an einem Lappen ab, tätschelte ihre Wangen und versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. Doch es half alles nichts. Sie musste schon wieder grinsen und Marcel ihr Grübchen in der rechten Wange präsentieren. Dabei zeigte sie auf Marcels Unterleib.
Jetzt sah er es auch. Er trug diese Unterhose mit dem tränenlachenden Smiley verkehrt herum, das Lachgesicht war nicht hinten, wo es hingehörte, sondern vorne. Selma hatte ihm diesen Slip bei einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft. Marcel hatte sich aber immer geweigert, ihn anzuziehen. Bis heute.
«Sehr witzig», sagte Marcel. «Ich habe einfach in die Schublade gegriffen und nicht auf das Muster geachtet.»
«Excusé, das sieht einfach zum Schreien aus», sagte Selma, «ein Lachsack vor deinem … du weisst schon!» Und dann musste sie nochmals laut herauslachen und nach Luft schnappen. Sie hielt sich den Bauch.
Marcel strich ihr sanft über die rechte Wange mit dem Grübchen, neigte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dann schaute er ihr lange in die Augen. «Du bist wunderschön», flüstere er.
Selma fuhr mit der Hand durch Marcels kurze, schwarze Haare. Dann schnappte sie sich ein Kissen von einem der beiden Liegestühle und reichte es Marcel: «Setz dich neben mich auf den Boden. Wir malen zusammen.»
«Wir malen zusammen?», fragte Marcel erstaunt.
«Ja, Liebster», hauchte Selma.
«Ich durfte dir noch nie zuschauen, wenn du malst. Was ist denn …»
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