Lea griff zur Schere und begann vorsichtig zu schnippeln. «Ihr seid wirklich ein Traumpaar. Ich würde mich freuen, wenn Marcel bei dir einziehen würde. Vielleicht arbeitet er dann auch wieder als Psychologe und gibt diesen Tram- und Busfahrerjob auf.»
«Lea!», sagte Selma unwirsch. «Du denkst schon wie meine Mutter. Ich möchte jetzt nicht über meine Beziehung sprechen.» Natürlich liebte sie Marcel. Er war der perfekte Mann. Gutaussehend, aufmerksam, witzig, gebildet. Und er konnte kochen. Putzen nicht so. Aber kochen konnte er wirklich.
Andererseits: Marcel war auch der perfekte Freund. Und genau diese Freundschaft hatte sich verändert, seit sie ein Paar waren. Sie waren körperlich intim, aber ihre Freundschaft war es jetzt weniger. Was sich schon allein daran zeigte, dass sie mit Marcel darüber nicht reden konnte. Und genau dies vermisste sie. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn liebe, aber …? Zu doof. Selma wollte Marcel nicht verletzen.
«Nellie hat mir geschrieben», sagte Selma und wechselte das Thema.
«Wie geht es denn deiner Nichte? Oder Halbnichte? Wie nennt man die Tochter eines Halbbruders überhaupt?»
«Für mich ist sie einfach meine Nichte. Sie schreibt gerade eine Arbeit für ihr Studium der Medienwissenschaften.»
«Oh, dann begibt sie sich also in deine Fussspuren und wird ebenfalls eine grosse Reporterin.»
«Ich hoffe nicht, die Geschäfte laufen gerade alles andere als gut.»
«Ach komm, Süsse, das wird schon wieder. Wann besuchst du Nellie und deine schwedische Familie endlich einmal?»
«Sie lädt mich in jedem Mail ein.»
«Na dann, los.»
«Ach Lea, ich weiss immer noch nicht, ob ich das möchte. Nichts gegen Nellie. Sie ist eine tolle junge Frau. Aber meine Geschichte ist nicht ihre. Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, ich hätte den gleichen Vater wie meine Schwester Elin, Dominic-Michel Legrand. Dass mein Erzeuger in Wirklichkeit Nellies Grossvater Arvid Bengt Ivarsson ist, ganz ehrlich, damit tue ich mich schwer.»
«Du solltest diesen Knoten lösen und nach Schweden reisen. Sonst kannst du das nie klären.»
«Es wird geklärt.»
«Aha. Und wie?» Lea stellte sich neben den Friseurspiegel und schaute Selma fragend an.
«Nellie will im August in die Schweiz reisen und uns besuchen. Zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und mit ihrem Grossvater. Mit meinem Vater.»
«Echt jetzt?»
«Ja.»
«Weiss Charlotte davon?»
«Nein.»
«Nein?»
«Lea, ich weiss es erst seit zwei Wochen.»
«Seit zwei Wochen?»
«So ungefähr. Vielleicht sind es auch drei Wochen.»
Lea verdrehte die Augen und fragte: «Was hast du Nellie geantwortet?»
«Nichts.»
«Nichts? So, so. Und wer weiss ausser mir davon? Marcel?» Lea schaute ihrer Freundin tief in die Augen.
«Niemand», sagte Selma.
«Niemand?»
«Jetzt schau mich nicht so an.»
«Wo liegt eigentlich dein Problem, Süsse? Wir wohnen im Haus des schwedischen Ex-Königs Gustav …»
«Tun wir nicht. Der wohnte weiter hinten in der St. Johanns-Vorstadt. Und im Hotel Drei Könige. Und nur weil meine Mutter so ein Theater um ihn macht, heisst das noch lange nicht, dass er ein guter Kerl war. Ich habe viel über ihn gelesen, liebe Lea, und ich muss sagen: Er war kein Sympathieträger.»
«Was aber nichts mit Nellie und deinem Vater zu tun hat.»
Selma wurde sauer: «Sag mal, was ist denn mit dir los? Wenn ich keinen Bock auf diese dämliche schwedische Verwandtschaft habe, ist das meine Sache.»
Lea machte sich wieder ans Werk, frisierte Selma weiter und sagte: «Natürlich. Ich finde trotzdem, du solltest dich dieser Sache stellen. Nellie ist nett. Da kann dein Vater kein Idiot sein.»
Wie recht sie hatte, dachte Selma und hatte bereits ein schlechtes Gewissen ihrer Freundin gegenüber.
«Sorry, ich wollte dich nicht verletzen», sagte Lea. «Aber mal ganz ehrlich: Die Sache belastet deine Mutter und deine Schwester. Und Marcel. Und mich ebenso. Nellie vermutlich auch. Deine ganze Familie leidet. Seit Monaten schiebst du das alles vor dich hin. Niemand getraut sich, mit dir darüber zu sprechen. Gib deinem Vater eine Chance.»
Tausend Gedanken schwirrten in Selmas Kopf herum. Als Lea ihr Werk beendet hatte, betrachtete sich Selma im Spiegel. Lange. Die Frisur war top. Trotzdem gefiel sie sich nicht. Sie hatte so markante, harte Gesichtszüge bekommen.
«Selma, bist du unzufrieden?»
«Alles gut. Bist ein Schatz.»
«Aber?»
«Nichts aber. Du hast recht. Ich werde Nellie schreiben. Ich werde ihr schreiben, dass ich mich auf sie und ihre Familie freue. Auf meine Familie.»
Der Vorsatz war da, aber mit der Umsetzung haperte es. Selma sass an ihrem Laptop, trank bereits den dritten Milchkaffee und hatte noch keinen Satz zustande gebracht. Der Cursor blinkte unaufhörlich unter der Anrede «Hei Nellie».
Selma hatte selten einen Schreibstau, wenn sie eine Reportage schreiben musste. Und wenn, dann half Kaffee. Aber in diesem Fall hatte auch das nichts gebracht.
Da sie nicht nur genügend Kaffee getrunken, sondern auch schon ihre Haare hatte frisieren lassen, gab es nur noch eines: einen Spaziergang. Oder Marcel. Oder beides. Sie schrieb Marcel eine Nachricht und freute sich, dass er kurz darauf antwortete. Sie verabredeten sich in einer Stunde in der Confiserie Seeberger an der Schifflände. Also würde sie vorher noch ein bisschen durch die Stadt spazieren. Sie warf einen prüfenden Blick in den grossen Spiegel, der im Entrée stand, war zufrieden und wollte ihre Wohnung verlassen. Doch dann drehte sie um, ging ins Schlafzimmer und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Ihr war in den Sinn gekommen, dass sie die kurze Jeanshose, die sie gerade anhatte, gestern Abend schon getragen hatte, als Marcel zu ihr gekommen war. Also musste sie etwas anderes anziehen. Nein, sie musste nicht, sie wollte. Marcel würde es wahrscheinlich nicht bemerken, aber schliesslich musste sie sich selbst gefallen. Zweimal hintereinander in den gleichen Kleidern zu erscheinen, ging nicht. Das hatte sie von ihrer Mutter Charlotte gelernt.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war erneut ein heisser, wolkenloser Frühsommertag. Selma hatte Lust auf ein Kleid. Oder doch auf einen Rock und ein freches Oberteil? Jedenfalls etwas Leichtes, Kurzes. Sie tänzelte von einem Bein aufs andere, fuhr mit den Händen durch ihre Haare, drehte an ihren silbernen Fingerringen. Ach, sie hatte einfach nichts anzuziehen. Sie müsste unbedingt shoppen gehen.
Sie entschied sich schliesslich für das weisse Sommerkleid mit dem Pflanzenmuster, betrachtete sich im Spiegel, ging zum Schuhschrank und musste feststellen, dass sie keine Schuhe besass, die zu diesem Kleid passten. Sie müsste auch Schuhe kaufen. Unbedingt. Sie nahm die weissen Sneakers aus dem Kasten, zog sie an, prüfte sich erneut im Spiegel – und war einigermassen zufrieden.
Im Treppenhaus setzte sie sich wie fast immer auf den Handlauf und rutschte Etage um Etage ins Parterre. Erst dort wurde ihr bewusst, dass ihr Kleid weiss war und durch die Rutscherei jetzt dreckig sein könnte. Schnell huschte sie in Leas Coiffeursalon und fragte ihre Freundin, ob das Kleid verschmutzt sei. Lea verneinte und strich das Kleid an ihrem Po glatt.
«Du siehst toll aus», sagte Lea. «Hast du ein Date?»
«Ja», antwortete Selma, zwinkerte Lea zu und lächelte.
«Oh, dieses umwerfende Lächeln und das süsse Grübchen», meinte Lea. «Du wirst Marcel den Kopf verdrehen.»
«Marcel? Besteht meine Männerwelt nur noch aus Marcel?»
«Natürlich nicht», sagte Lea gespielt erstaunt. «Wie hiessen deine letzten Lover schon wieder? Res, Lasse, Björn?»
Res, der Senn vom Saanenland, mein Jugendschwarm, den ich auf der Alp wiedergetroffen habe, sinnierte Selma. Lasse und Björn, die beiden Schweden, die ich in Engelberg kennengelernt habe. «Tiefste Vergangenheit», sagte Selma zu ihrer Freundin. «Res hat mit seiner früheren Sennerin und heutigen Frau Martina einen Sohn bekommen. Hotelier Björn verträgt sich dank Marcels Therapie wieder mit seiner Frau. Und der schöne Alles-ist-easy-Lasse ist tatsächlich mit der gestalkten Sylvia nach Schweden zurückgekehrt.»
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