Selma hielt ihren Zeigefinger auf Marcels Mund. Marcel legte das Kissen neben Selma auf den Bretterboden der Dachterrasse, setzte sich und lehnte seinen Kopf gegen Selmas nackten Oberschenkel. «Stört dich das?»
Selma gab ihm einen Kuss und sagte: «Nein, es ist schön.» Dann nahm sie die Palette und den Pinsel und begann, alle möglichen Blautöne auf die Leinwand aufzutragen. Das Bild wurde immer kälter, düsterer, bedrohlicher.
Selma versank in ihrer Malerei. Das leise Rauschen des Rheins wurde lauter. Es verwandelte sich in das Tosen des Bachs, der tief unten in diesem schwarzen Loch des Gletschers zu hören gewesen war, in das Selma gefallen und erfroren wäre, hätte sie nicht das Seil der Skifahrer ergreifen und sich retten können.
Sie bekam Hühnerhaut. Was war das für eine abenteuerliche Geschichte damals in der Vorweihnachtszeit. Die Reportage über die verrückten Freerider in Engelberg, ihr Sturz in die Spalte auf dem Titlisgletscher, die Lawine. Und natürlich ihre Begegnung mit den Wölfen.
Ihr Auftraggeber Jonas Haberer hatte recht behalten: Selmas Fotos des jungen Wolfspaares aus dem Engelbergertal liessen sich erfolgreich verkaufen. Selma gab Interviews für Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen. Sie war ein kleiner Star geworden. Drei Mal war sie nochmals nach Engelberg gefahren, um die Wölfe zu suchen. Aber sie hatte sie nicht mehr gefunden. Niemand hatte sie noch einmal gesichtet. Das kleine Rudel war weitergezogen.
Selma dachte oft an die Wölfe. Sie malte sie. Auch mit ihrem Nachwuchs, den die Tiere nun sicher hatten. Selma hatte alle möglichen Szenen gemalt: Die Wölfe beim Kuscheln in einer Höhle, beim Spielen, bei der Jagd. Ihre Gemälde waren manchmal realistisch, oft jedoch abstrakt. Selma liebte es, in ihren Werken eine Stimmung auszudrücken und die Wölfe nur anzudeuten. Eine Schnauze, ein Augenpaar, Pfoten.
Bis heute hatte Selma nur noch Wolfsbilder gemalt. In den letzten Monaten hatte sie Zeit dazu. Es herrschte Flaute, Aufträge für grosse Reportagen blieben aus. Auch Werbeshootings gab es wenige. Selbst Tausendsassa Jonas Haberer kämpfte um neue Einnahmequellen. Er motivierte Selma, ein Buch mit ihren besten Wolfsfotos und ihren Wolfsgemälden zu machen. Selma malte und schrieb tage- und nächtelang. Es wurde ein schönes, ein spannendes Buch mit all ihren Erlebnissen. Bald würde es erscheinen.
Sie lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete nun ihr eiskaltes Werk. Es schauderte sie. Am Horizont wurde es bereits hell. Die ersten Vögel piepsten.
Marcel war längst eingeschlafen.
«Rufe mich bei Gelegenheit an. LG Jonas.»
Diese WhatsApp-Nachricht fand die Reporterin auf ihrem Smartphone, als sie aus der Dusche kam. Nach ihrer nächtlichen Malaktion und nachdem Marcel zu seiner Schicht bei den Basler Verkehrs-Betrieben aufgebrochen war, hatte Selma doch noch schlafen können.
Sie rief ihren Auftraggeber Jonas Haberer gleich an.
«Ja, bitte?»
«Jonas!»
«Selma, du bist ja fix», sagte er mürrisch. «Braves Mädchen.»
«Was ist denn mit dir los? Kein fröhliches ‹Selmeli, mein Mäuschen, mein Myysli›?»
«Es ist zu heiss. Und dies schon um 10 Uhr morgens.»
«Ich habe gerade geduscht. Mir geht es wunderbar.»
«Du hast geduscht? Bist du etwa nackt?»
Selma war etwas verlegen. Sie war tatsächlich nackt. Zum Glück führte sie ein Telefonat und keinen Videoanruf. «Ja, ich bin nackt.»
«Selmeli!», schrie Haberer ins Telefon. «Das kannst du nicht machen, Kleines. Jetzt habe ich noch heisser.»
«Du hockst doch in Bern. Also spring in die Aare.»
«Selmeli, das machen Kinder und pensionierte Beamte.» Er prustete laut heraus. «Nein, nein», meinte er. «Dann fahre ich lieber nach Engelberg und hüpfe auf dem Titlisgletscher in eine Spalte. Aber im Gegensatz zu dir nehme ich Whisky mit. Dann habe ich Whisky on the rocks.» Wieder prustete Haberer drauflos.
Selma musste ebenfalls lachen, obwohl er diesen Scherz nach ihrem Sturz in den Gletscher schon einmal gebrachte hatte. Dann sagte sie: «Die Aare ist doch herrlich.»
«Wie der Rhein, nicht wahr?», sagte Haberer mit einem süffisanten Unterton.
«Oh, ja, einfach toll.»
«Du badest wirklich in dieser Kloake?»
«Aber natürlich. Vielleicht springe ich später noch hinein.»
«Selmeli, wie erbärmlich! Deine Frau Mama macht das sicher nicht. Sie muss sich schämen für dich.»
«Charlotte weigert sich tatsächlich im Rhein zu schwimmen. Sie hat noch die Zeiten erlebt, als der Rhein wirklich eine Kloake war. Oder besser gesagt: ein Abwasserkanal der Industrie.»
«Und Charlotte ist eine Dame von Welt. Sie hat Niveau. Ich passe wirklich besser zu deiner Mutter als zu dir, Liebes, es tut mir leid.»
«Ich werde es überleben, Jonas. Und meiner Mutter einen Gruss ausrichten.»
«Einen sehr lieben, bitteschön.» Er räusperte sich. So laut, dass Selma kurz das Telefon vom Ohr nehmen musste. «So ein eiskaltes Gläschen Aquavit mit Charlotte wäre jetzt nicht schlecht.»
«Also, Jonas, worum geht es?», fragte Selma und wollte endlich zum Geschäftlichen kommen. «Etwas Dringendes kann es ja nicht sein, schliesslich hast du mir geschrieben, ich solle dich gelegentlich anrufen.»
«Gelegentlich heisst bei mir innerhalb einer Viertelstunde, das solltest du wissen, Myysli. Bei mir ist immer alles dringend.»
«Also?»
«Ich habe einen neuen Auftrag.»
«Endlich», seufzte Selma erleichtert. «Ist auch an der Zeit.»
«Es geht um eine aussergewöhnliche Hochzeit.»
«Du suchst eine Hochzeitsfotografin?»
«Ja. Stinkreiches Mädchen heiratet stinkreichen Macho. Kohle ohne Ende. Deshalb ist das Honorar horrend. Es muss einfach die beste Fotografin der Welt sein.»
«Das bin ich nicht.»
«Wenn ich es sage, dann schon.»
«Jonas, ich fotografiere keine Hochzeiten», sagte Selma barsch.
«Auch wenn noch eine kleine Bergwanderung dabei ist und du extrem tolle Landschaftsbilder machen und vielleicht sogar Steinböcke, Gämsen, Wölfe und Bären fotografieren kannst? Und es für dich ein wahrlich grosses Abenteuer werden kann?»
«Wie meinst du das?»
«Selmeli, der Berg ruft!»
«Und die Hochzeitsglocken läuten», meinte Selma sarkastisch. «Und nenn mich nicht immer Selmeli!»
«Selmeli, Selma, warum bist du so hart zu mir?»
«Ich bin Fotoreporterin und keine Hochzeitsfotografin.»
«Verstehe, du hast recht. Hochzeitsfotografie ist unter deiner Würde. Wie konnte ich dich überhaupt fragen? Kapelle, Kutsche, Küsschen, Küsschen, jede Menge Kohle, Selmeli, vergiss es, mir kommt das Kotzen. Ich engagiere irgendeinen Nachwuchsfotografen, der mal in New York, Dubai oder Shanghai war und verkaufe ihn als trendy. Also, bis dann!»
Die Verbindung brach ab. Selma starrte auf ihr Smartphone und schüttelte den Kopf: «Hochzeitsfotografin», murmelte sie. «Der hat sie doch nicht mehr alle.»
Selma ärgerte sich auch eine Stunde später noch über ihren Auftraggeber Haberer. Deshalb kam ihr der Coiffeurbesuch bei ihrer besten Freundin Lea gerade recht. Lea wohnte nicht nur im gleichen Haus wie sie, sondern hatte im Parterre auch ihren Salon.
«Hast du Ärger, Madame Selma Legrand-Hedlund?», fragte Lea, nachdem sie Selmas Haare gewaschen hatte. «Schlecht geschlafen? Du wirkst etwas …»
«Ich bin sauer», unterbrach Selma. «Mein Boss, der tolle Jonas Haberer, wollte mich tatsächlich als Hochzeitsfotografin engagieren.»
«Aha. Aber sonst ist alles in Ordnung? Marcel hat letzte Nacht wieder einmal bei dir geschlafen, oder?»
«Jetzt redest du wie meine Mutter», murrte Selma. «Ist nicht verwunderlich. Charlotte ist schliesslich omnipräsent, da sie ebenfalls in diesem Haus wohnt. Und ja, Marcel hat bei mir übernachtet. Aber Schluss jetzt, Lea. Bring meine Haare in Ordnung.»
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