«Hallo?», meldete sich eine freundliche Stimme.
«Hei, ich bin Selma. Sind Sie Katharina?»
«Ja, die bin ich.»
«Ich heisse Selma Legrand-Hedlund. Ich rufe wegen dem Fotoauftrag von Jonas Haberer an.»
«Von wem?»
«Haberer, Medienunternehmer aus Bern.»
«Sagt mir nichts.»
«Es geht um eine Hochzeit.»
«Oh, die Hochzeit, die Chasper organisiert. Oder mitorganisiert. Weiss es auch nicht so genau.»
Chasper, der talentfreie Politiker, wie Haberer ihn genannt hatte. Selma erinnerte sich, musste lächeln und sagte: «Chasper ist ein Freund meines Auftraggebers. Ich habe diesen Job angenommen und soll mich bei Ihnen melden.»
«Gut, dann setzen wir uns doch am besten mal zusammen.»
«Können wir es nicht am Telefon besprechen?»
«Das sollten …» Katharina stockte und sprach erst nach einigen Sekunden weiter. «Das sollten wir nicht tun.»
«Und warum nicht?»
«Ich kenne Sie nicht und darf mit niemandem reden. Schon gar nicht am Telefon.»
«Geheimhaltung?», fragte Selma verärgert.
«Ja. Entschuldigen Sie, mir kommt das auch ein bisschen übertrieben vor. Aber es geht nicht anders. Ich musste sogar unterschreiben, dass ich den Auftrag vertraulich behandle.»
«Musste ich auch. Sind Sie denn die Hochzeitsplanerin?»
Katharina lachte. Es war ein sympathisches Lachen. «Nein», sagte sie. «Das gäbe eine Katastrophe.»
«Was sind Sie dann?»
«Hören Sie, ich kann nicht darüber sprechen. Machen wir einen Termin aus. Wann können Sie herkommen?»
«Moment», sagte Selma, nahm das Smartphone vom Ohr, schaltete den Lautsprecher an und öffnete den digitalen Kalender. Die nächsten Tage waren alle frei. Und Marcel war am Arbeiten. Seit sie ein Paar waren, schickte er ihr immer seine Bus- und Tramschichten bei den Basler Verkehrs-Betrieben. «Also, ich könnte zum Beispiel …» Selma überlegte kurz und entschied sich dann, Katharina so bald wie möglich zu treffen, damit sie endlich erfahren würde, worum es bei dieser ominösen Hochzeit gehen würde. «Ich könnte gleich morgen», sagte sie. «Morgen nach dem Mittag.»
«Morgen. Oh. Das passt.»
Als Treffpunkt vereinbarten die beiden Frauen den Bahnhof in Pontresina. Selma legte das Telefon beiseite und konnte sich nun endlich etwas entspannen. Das Seitenstechen war weg, auch der Bauch schmerzte bereits viel weniger. Selma hasste vage Einsätze.
Sie setzte sich an den Laptop und schrieb Nellie ein Mail, dass sie gerade einen Auftrag erhalten habe, der im August stattfinden würde, ihren Besuch aber nicht tangieren sollte. Selma rechnete damit, dass die Hochzeit und die von Haberer erwähnte Wanderung mit dem Brautpaar nicht mehr als zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würde, höchstens eine Woche.
Danach schrieb sie Marcel eine WhatsApp-Nachricht und bat ihn um Verständnis, dass sie heute Abend zu Hause bleiben möchte, da sie morgen früh aufstehen müsse. Eigentlich hatten sie abgemacht, dass sie ihn besuchen würde.
Marcel antwortete wenige Minuten später, dass dies in Ordnung sei. Sie könnten später noch telefonieren.
Selma fühlte sich nun noch entspannter. Befreiter. Sie mochte Marcels Wohnung nicht besonders. Den Grund dafür wusste sie nicht. Lag es an der kargen Einrichtung? Am riesigen Büchergestell, das sie so ungebildet fühlen liess? Oder fühlte sie sich einfach in Marcels Reich nicht zu Hause? In Marcels Leben?
Selma wusste es wirklich nicht. War sie seltsam geworden? Eigen? Verschroben? Die Zeit würde all diese Fragen beantworten. Hoffentlich.
Sie verliess ihre Wohnung, rutschte auf dem Treppengeländer vom dritten Stock zum Hauseingang und holte in der Confiserie an der Schifflände zwei Hefeschnecken. Dann ging sie zurück ins Haus «Zem Syydebändel» und klingelte im ersten Stock bei ihrer Mutter.
«Fika?», fragte sie, als ihre Mutter die Türe öffnete.
«Selmeli», sagte Charlotte erfreut. «Was für eine Überraschung! Natürlich mache ich eine Kaffeepause mit dir. Sehr gerne sogar.»
Die Hefeschnecken konnten die schwedischen Zimtschnecken zwar nicht ersetzen, dafür schmeckte der Filterkaffee mit Zichorie richtig skandinavisch. Die beiden Frauen waren in der Stube, Charlotte sass mit angewinkelten Beinen aufrecht auf dem abgewetzten Biedermeiersofa. Selma erzählte, dass sie einen neuen Auftrag erhalten habe und dass sie bereits morgen für einen oder zwei Tage ins Engadin reisen würde. Danach führten sie den Smalltalk, wie er mit Charlotte Svea Legrand-Hedlund üblich war.
Schliesslich teilte Selma ihrer Mutter mit, dass sie mit Nellie definitiv abgemacht hätte: «Sie besucht uns im August. Zusammen mit ihrem Bruder Kristian, ihren Eltern Inger und Dagmar sowie ihrem Grossvater Arvid Bengt.» Selma hielt einen Moment inne und ergänzte: «Meinem leiblichen Vater.»
«Mon dieu, Selma, Liebes», sagte Charlotte, zog ihren Rock in die Länge und hüstelte. «Schon so bald?»
Selma ging nicht auf die Frage ein: «Darf ich noch den Rest deiner Hefeschnecken verdrücken? Ich war im Rhein und habe Hunger.»
«Bedien dich, Selmeli. War das Bad erfrischend? Du weisst hoffentlich, wie gefährlich der Rhein sein kann. Ich werde nie verstehen, wie man in dieser …» Charlotte suchte nach dem richtigen Wort.
«Kloake», ergänzte Selma. «Unser Freund Jonas Haberer nennt den Rhein Kloake.»
«Oh ja. Da hat Jonas recht. Weisst du, zu meiner Zeit …»
«Mama», unterbrach Selma. «Ich werde schon sehr bald meinen Vater kennenlernen. Und du wirst deinen Liebhaber wiedersehen.»
«Liebhaber! Selmeli, ich bitte dich.» Charlotte schüttelte den Kopf, und musste danach eine Haarsträhne ihrer Bob-Frisur wieder an den richtigen Ort rücken.
«Wie auch immer. Ich werde meinen Vater kennenlernen und ihm all die Fragen stellen können, die mich seit Monaten beschäftigen.»
«Aha», sagte Charlotte und starrte eine Zeit lang auf ihre Kaffeetasse. Schliesslich meinte sie: «Du kannst doch auch mich fragen.»
«Damit ich zu hören bekomme, wenn du überhaupt antworten würdest, dass Arvid Bengt erst vor Kurzem erfahren hat, dass es mich gibt? Damit du mir abermals versicherst, dass Arvid Bengt seine Gemälde dir ganz zufällig kurz nach dem Tod deines Ehemannes Dominic-Michel Legrand zugeschickt hat?»
«Selmeli», sagte Charlotte und erhob sich. «Es gibt Dinge, die von der Nachfolgegeneration moralisch anders bewertet werden, als …»
«Ich weiss», unterbrach Selma ihre Mutter abermals. «Trotzdem: Sage mir einfach die Wahrheit. Schliesslich bin ich deine Tochter. Und ich liebe dich, was auch immer ans Licht kommen mag.»
Selma umarmte ihre Mutter. Drückte sie fest an sich.
Charlotte sagte leise: «Selmeli. Ich würde dir die ganze Wahrheit erzählen, wenn ich sie kennen würde. Aber glaube mir: Ich kämpfe mit mir. Schon seit ich mit dir schwanger war.»
Gäbe es nicht bereits Tausende Fotos, unzählige Bücher und Filme über die Albulabahnstrecke – die Reporterin hätte das Thema sofort aufgegriffen. Doch nun schaute sie einfach fasziniert aus dem Fenster und genoss die Fahrt durch die imposante Landschaft, über das weltbekannte Landwasserviadukt und durch die Kehrtunnel zwischen Bergün und Preda. Wann war sie diese Strecke zum letzten Mal gefahren? Wahrscheinlich auf einer Reise in ein Schullager. Ja, sie erinnerte sich, im Unterengadin war sie als Teenager einmal in einem Wandercamp. Aber im Oberengadin war sie noch nie. Weder beruflich noch privat. Und es war auch keine Feriendestination der Legrand-Hedlunds. Das Bündner Hochtal mit dem weltbekannten Kurort St. Moritz war Charlotte schlicht zu alpin. Es sei immer kalt dort, behauptete sie.
Selma hatte vergangene Nacht wunderbar geschlafen. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr gutgetan, obwohl die letzten Sätze sie irritiert hatten. Warum sollte Charlotte die Wahrheit nicht kennen? Sie war gespannt, ob Charlotte nun endlich reagieren würde. Ihre Mama unter Druck zu setzen, war nicht Selmas Ding. Aber ihre Schwester Elin hatte es ihr schon ein paarmal vorgemacht. Mit Erfolg. Dank Elin war die Existenz von Arvid Bengt überhaupt ans Licht gekommen. Jedenfalls war die schwedische «Fika» wohltuend gewesen.
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