„Du kannst dir was darauf einbilden, Menschensohn. Die töten sich sogar gegenseitig, um an dein süßes, unschuldiges Fleisch zu kommen.“ Die spitzohrige Gestalt ihn fast schon neidvoll an, „aber tauschen möchte ich dennoch nicht mit dir!“
Dann bedachte der Elf Christopher mit einem Blick, der diesem deutlich zu verstehen gab, wie es um ihn bestellt war. Offenbar gab es in dieser Welt weder Mitgefühl noch Mitleid oder irgendeine andere Art von gefühlsmäßiger Regung, wenn man von all dem Hass und der Gier, die hier deutlich spürbar waren, einmal absah.
Ja, mag sein, du verbittertes Etwas von einem Elf – dachte Christopher bei sich, aber vielleicht habe ich auch Glück, und diese beiden Unholde metzeln sich jetzt einfach gegenseitig ab und ich komme zu einem dieser kleinwüchsigen, hässlichen Gnome da unten. Dann werde ich mich schon irgendwie aus deren Gewalt befreien und überleben! Also grinse nicht mehr so gehässig und kümmere dich um deine eigenen Probleme.
Am liebsten hätte er es laut ausgesprochen, doch er riss sich zusammen. Diese Kreatur war es gar nicht wert, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Als Christopher es nun wagte und vorsichtig durch seine halbgeöffneten Lider blinzelte, konnte er schemenhaft erkennen, wie sich der narbengesichtige Hüne über dem auf dem Boden liegenden Reptilienmann emporstreckte, eine Axt in beiden Händen. Er holte aus und … Christopher schloss wieder die Augen. Er konnte die Geräusche hören, doch er musste nicht auch noch die Bilder dazu sehen. Immer wieder schien dieser riesige Kerl zuzuschlagen. Dabei musste sein Gegner längst tot sein. Es war bestialisch und unerträglich.
Christopher dachte wieder an Zuhause. An seine Hühner und Kaninchen, die Schafe und Schweine. Sein geliebtes Pferd. Sie alle waren bei dem Massaker vor ein paar Tagen ebenfalls völlig unnötig getötet worden. Er selbst jedoch hatte noch keinem lebendigen Wesen das Leben genommen. Das hatte er nie fertiggebracht. Einem von ihnen ein Haar zu krümmen, wäre ihm grundlos nie und nimmer in den Sinn gekommen. Im Gegenteil. Er war unfähig gewesen, seinen tierischen Freunden die Kehlen durchzuschneiden, nur damit er und seine Familie etwas auf den Tisch bekamen. Diese Aufgabe hatte, wenn überhaupt, stets sein Vater oder sein Großvater übernommen. Zu Christophers Leidwesen, der bereits seit seinem sechsten Lebensjahr kein Fleisch mehr anrührte, so sehr seine Eltern das auch missbilligten. Er wusste zwar nicht, ob dies auch so gewesen wäre, hätten er und seine Familie unter irgendwelchen Hungersnöten gelitten, und wären deshalb auf das Jagen von Wild angewiesen gewesen. Doch dazu war es glücklicherweise nie gekommen. Sie lebten zum einen zwar sehr abgeschottet und isoliert von der Außenwelt, abseits der ländlichen Dörfer und lebhafteren Städte, oder besser gesagt, hatten gelebt. Dafür aber an einem äußerst fruchtbaren und schönen Ort nahe diesen Wäldern eben, in deren Untiefen er vor Kurzem verschleppt wurde. Vermutlich war dies ja überhaupt erst der Grund, warum so wenige sich an jenen für Christopher so paradiesischen Ort niedergelassen hatten. Weil die Warnungen auf tatsächlichen Legenden beruhten und nicht auf „gotteslästernden“ Märchen, wie seine Eltern und Großeltern ihm immer hatten eintrichtern wollen. Immerhin war das ihr Glaube. Ihre Religion. Die Religion der Sanctinier eben, einer kleinen, von der übrigen Bevölkerung oft belächelten Minderheit Pranandos, die die Existenz der Dunkelwesen leugnete. Wie oft waren verirrte Wanderer bei ihnen eingekehrt und zutiefst darüber verwundert gewesen, einen Hof so nahe des äußersten Randes des umstrittenen Dunkelwaldes vorzufinden, den die Menschen für gewöhnlich größtenteils mieden. Im Nachhinein war Christopher nun klar, dass man seine Eltern für geisteskrank gehalten haben musste. Wie hatten sie sich nur jemals so sicher sein können, dass ihr Glaube tatsächlich der einzig Richtige war? Und dass ihre damit einhergehenden Ansichten und Behauptungen über diese Welt derart unfehlbar seien, dass alles andere nicht galt? Obwohl sie sich damit in der absoluten Minderheit befanden! Hatten sie also tatsächlich keine Ahnung gehabt? Nie gezweifelt? Oder aber hatten sie sich und ihren Sohn vielleicht sogar fahrlässig einer Gefahr ausgesetzt, die jederzeit über ihnen allen hätte hereinbrechen können, nur, um auch ja auf ihrer Religion bestehen zu können? War ihnen ihr Glaube demnach wichtiger gewesen als ihre eigene Unversehrtheit und die ihrer Lieben? Und hatten sie sich allesamt aus diesem Grund dem Risiko ausgesetzt, jederzeit auf Dunkelwesen zu treffen und von ihnen angegriffen zu werden? Nein. Christopher hatte eine andere Erklärung für ihr Verhalten. Und die hieß blindes Gottvertauen. Nur so konnte er sich ihr naives Handeln erklären. Doch ihr unumstößlicher Glaube hatte seine Familie an jenem Tag leider nicht retten können. Im Gegenteil. Sie starben alle einen grässlichen Tod. Dabei waren sie doch so gute, anständige Menschen gewesen. Soviel stand fest. Nie hätten sie absichtlich etwas Böses getan noch etwas Böses gewollt. Sie hatten vermutlich einfach einen riesengroßen Fehler gemacht, in dem sie sich in ihrem strengen Glauben verrannt und die eindringlichen und warnenden Worte der „ungläubigen“ Menschen nicht ernst genommen hatten. Sie mussten sich von der ertragreichen Erde und den glitzernden Bächen haben überzeugen lassen, dort wäre ein guter Ort, um in Frieden zu leben. Hatten die Gefahr unterschätzt. Nun waren sie tot, regelrecht dahingemetzelt und außer ihm war nichts und niemand mehr übrig, der von ihrer aller Existenz zeugen konnte. Welch eine Ironie zudem, dass ausgerechnet Christopher das Blutbad als einziger überlebt hatte, obwohl er noch nicht einmal der leibliche Sohn seiner Eltern gewesen war und somit nicht der sanctinischen Blutlinie entstammte. Und doch war er allein es, der noch da war. Wenn er genauer darüber nachdachte, erschien diese Tatsache ihm wie eine zusätzliche Verhöhnung seiner ermordeten, gläubigen Familie. Ja, es war ein hoher Preis, den sie für ihren frommen Glauben gezahlt hatten.
Christopher wurde durch einen langen, barbarisch klingenden Schrei erneut seinen Gedanken entrissen. Rabiat holte der unmenschlich klingende Laut ihn zurück in die Realität und ein eisiger Schauer rieselte ihm den Rücken herunter. Es hörte sich an wie der Urschrei eines wilden Tieres. Er öffnete seine Augen wieder vollends und spähte angstvoll auf die Szenerie vor sich, als er auch schon den Hünen mit der blutigen Axt in der Hand erblickte. Dieser stand schwer atmend da und hielt seine andere Hand triumphierend gen Himmel. An seinem ausgestreckten Arm lief Blut herunter, dessen Ursprung von dem kam, was er da so siegesfreudig in die Höhe hielt. Überhaupt war er von Blut nur so überströmt. Das meiste davon musste das Blut des Reptilienmannes sein, wie Christopher jene Überreste der Kreatur, die dieser einmal gewesen war, noch immer in seinen Gedanken nannte, da er es nun einmal nicht besser wusste. Die unruhige Menge unter ihm jubelte jetzt ebenfalls wieder lautstark und Christopher starrte entsetzt auf den vernarbten Kerl, der sich für seinen grausigen Triumph über den Nebenbuhler ausgiebig feiern ließ. Christopher wagte es nicht, allzu genau auf die blutigen Überreste von dessen besiegtem Kontrahenten zu schauen, da er sonst vermutlich zusammengebrochen wäre. Wenn man zu dem da, zu dieser undefinierbaren Masse, werden konnte … dann hoffte Christopher, dass er selbst zumindest nach dem ersten oder zweiten Axthieb bereits so mausetot war, dass er von dem weiteren Gräuel nichts mehr mitbekommen würde, den man ihm antat.
Er war noch völlig in seinem Entsetzen über diese vorangegangene Situation gefangen, dass er beinahe nicht mitbekommen hätte, wie es mit einem Mal mucksmäuschenstill wurde. So, als wäre gerade etwas derart Wichtiges oder Grandioses passiert, dass man nun voller stillschweigender Begeisterung innehielt. Raunen und Geflüster ging zunächst noch mit dem Verstummen der zuvor lauten Geräuschkulisse einher. Blicke, die sich erwartungsvoll umsahen. Christophers Augen wandten sich angespannt in jene Richtung, in welche nun alle anwesenden Kreaturen sowie sein höchstbietender Käufer schauten. Er glaubte im nächsten Moment, seinen eigenen Sinnen nicht mehr ganz trauen zu können.
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