„Natürlich tut es mir leid – für Ihre Großmutter. Man hat schließlich ein Herz.“
„Was Sie nicht sagen.“
„Benno und ich waren an dem gestrigen Vorfall schuldlos“, behauptete Bertram Harrer kühl. „Niemand kann von uns verlangen, dass wir für etwas geradestehen, das wir nicht getan haben.“
„Haben Sie schon mal von fahrlässiger Körperverletzung gehört?“, fragte Sandra schneidend.
„Wollen Sie mich verklagen?“
„Wenn es sein muss, ja.“
„Damit kommen Sie nicht durch“, bemerkte Bertram Harrer überzeugt.
„Das werden wir ja sehen.“ Wütend knallte Sandra den Hörer auf den Apparat.
Als Oliver sie abholte, um mit ihr zur Wiesenhain-Klinik zu fahren, fiel ihm sofort ihre üble Laune auf. „Hast du schlechte Nachricht von der Klinik erhalten?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Sandra erzählte ihm von Bertram Harrers Anruf.
„Der Typ hat vielleicht Nerven“, entrüstete Oliver sich. „Du musst ihn anzeigen.“
„Das habe ich gleich nach seinem Anruf getan. So billig kommt Harrer mir nicht davon. Meine Großmutter hat Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.“
„Sehr richtig, und dafür hat die Hundehaftpflichtversicherung aufzukommen. Dazu gibt es sie ja schließlich.“
Anette Falkenberg sah schon etwas frischer aus. Sie hing nicht mehr am Tropf, aber die Bettruhe, die Dr. Warnke der Patientin wegen der Gehirnerschütterung verordnet hatte, hatte noch Gültigkeit. Sandras Großmutter freute sich über die Blumen, die Oliver mitgebracht hatte, und sie freute sich über seinen Besuch.
„Was machen Sie denn für Sachen, Frau Falkenberg?“, sagte Oliver Wiechert lächelnd.
„Ich hätte nicht fliehen dürfen“, seufzte Anette Falkenberg. „Aber als dieser große Hund auf mich zustürmte, hakte bei mir der Verstand aus.“
„Wieso ist der Hund auf Sie zugerannt?“, fragte Oliver und stellte einen Stuhl neben den, auf den sich Sandra gesetzt hatte.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Haben Sie ihn irgendwie gereizt?“ Oliver nahm Platz.
„Überhaupt nicht.“
„Wenn jemand so einen verrückten Hund besitzt, darf er ihn nicht frei herumlaufen lassen“, meinte Sandra rau. „Das Tier hat bestimmt nicht zum ersten Mal Leute erschreckt.“
„Wenn ich als Kind nicht von einem Hund gebissen worden wäre, hätte ich gestern nicht so sehr die Nerven verloren“, sagte Anette Falkenberg dumpf.
„Hast du den neuerlichen Schock inzwischen einigermaßen überwunden?“, fragte Sandra.
„Einigermaßen, ja.“
„Schmerzen?“
Anette Falkenberg hob die bandagierte Linke. „Nur in der Hand.“
„Zum Glück ist sie nicht gebrochen“, sagte Sandra. Sie blieb mit Oliver Wiechert eine Stunde bei ihrer Großmutter. Davon, dass Bertram Harrer den Vorfall seiner Versicherung nicht melden wollte, erzählte sie nichts. Schließlich sollte die alte Dame sich nicht aufregen.
Aber Dr. Krautmann gegenüber erwähnte sie das empörende Verhalten des Hundebesitzers, als sie und Oliver ihm auf dem Flur begegneten, und der Klinikchef riet ihr, sich einen guten Anwalt zu nehmen.
„Ich kenne leider keinen guten Anwalt“, erwiderte Sandra. „Ich kann mir nur irgendeinen aus dem Telefonbuch raussuchen.“
Der Chefarzt empfahl ihr seinen Schwager Dr. Axel Lieskow. „Wenn er sich Ihrer Sache annimmt, ist sie in besten Händen“, sagte Florian Krautmann.
Sandra bat ihn um Dr. Lieskows Adresse.
Der Klinikchef nannte sie und fügte hinzu: „Ich rufe ihn heute noch an, damit er sich für Sie Zeit nimmt.“
„Danke, Herr Dr. Krautmann.“
„Keine Ursache“, gab der Chefarzt freundlich lächelnd zurück.
Als Florian Krautmann eine Stunde später nach Hause kam, erzählte er seiner Frau von Bertram Harrers unverständlicher Weigerung, den gestrigen Vorfall seiner Versicherung zu melden.
„Der Mann kann nicht alle Tassen im Schrank haben“, sagte Melanie verständnislos und drastisch. „Ist es denn zu viel Mühe für ihn, seine Versicherung zu verständigen?“
„Er fühlt sich unschuldig“, erklärte Florian. „Eine Meldung des Schadens kommt nach seiner Ansicht einem Schuldbekenntnis gleich und deshalb für ihn nicht infrage.“
„Ja, wer ist seiner Meinung nach denn an dem Vorfall schuld?“
„Frau Falkenberg“, antwortete Florian Krautmann.
Melanie sah ihn fassungslos an. „Der Mann stellt die Dinge ja völlig auf den Kopf.“
„Deshalb werde ich jetzt Axel anrufen, damit er sie wieder umdreht.“ Am andern Ende der Leitung meldete sich Florian Krautmanns Schwester Trixi Lieskow. „Hallo, großer Bruder“, sagte sie erfreut. Sie war nicht ganz fünf Jahre jünger als er. „Schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es deiner Familie?“
„Gut. Und deiner?“
„Michaela und Sebastian sind mit dem Zelt nach Sylt unterwegs, und Axel hat mich ganz für sich allein.“ Florian lachte. „Ich hoffe, du überforderst ihn nicht.“
„Er wird es aushalten.“
„Darf ich ihn mal sprechen?“
„Privat?“, wollte Trixi Lieskow wissen.
„Nein“, antwortete Dr. Krautmann. „Ich möchte ihm einen skandalösen Fall ans Herz legen.“
„Du machst mich neugierig.“
„Erspar es mir, die Geschichte zweimal zu erzählen, Trixi“, bat Florian Krautmann seine Schwester. „Du erfährst sie später von deinem Mann, okay?“
Er hörte, wie sie Axel ans Telefon rief: „Liebling! Ein Anruf für dich!“
„Wer ist es?“, war Dr. Lieskows Stimme etwas weiter entfernt zu vernehmen.
„Ein dunkelhaariger, gutaussehender Mann Mitte vierzig, den ich seit frühester Kindheit liebe“, antwortete Trixi.
Dann meldete sich Axel. „Hallo!“
„Hallo, Schwager“, sagte Florian Krautmann.
„Ach, du bist es.“
„Wer dachtest du denn?“, fragte Florian lachend.
„Was weiß ich, wen meine Frau alles seit frühester Kindheit liebt“, brummte Dr. Axel Lieskow.
„Wie voll ist dein Terminkalender?“, erkundigte sich Florian Krautmann.
„Ziemlich voll.“
„Wenn man gut ist, ist man gefragt. Bringst du noch einen Fall unter?“
„Wenn ich dir damit einen Gefallen tue, ja“, antwortete der Rechtsanwalt.
„Morgen wird sich eine junge Frau bei dir melden“, sagte Dr. Krautmann.
„Wie ist Ihr Name?“
„Sandra Falkenberg.“
„Was hat sie für ein Problem?“, wollte Axel Lieskow wissen.
Krautmann informierte den Schwager in kurzen knappen Worten.
„Ich werde sehen, was ich für Frau Falkenberg tun kann“, versprach Dr. Lieskow.
„Danke, Axel.“
„Schon gut“, gab der Anwalt zurück und legte auf.
Tags darauf rief Sandra Dr. Axel Lieskow an. „Mein Name ist Sandra Falkenberg“, sagte sie. „Herr Dr. Krautmann hat Sie mir empfohlen …“
„Ich weiß Bescheid“, fiel der Rechtsanwalt ihr ins Wort. „Mein Schwager hat mich gestern Abend angerufen. Üble Sache, die da passiert ist, aber seien Sie unbesorgt, ich werde Ihrer Großmutter zu ihrem Recht verhelfen. Ich schlage vor, Sie kommen heute um vierzehn Uhr in meine Kanzlei, und wir besprechen alles Weitere.“
Sandra war pünktlich. Der fünfzigjährige Anwalt begrüßte sie freundlich, ließ sie die Geschichte, die er bereits größtenteils kannte, erzählen und sagte dann:
„Wir werden die von Herrn Harrer verrückten Dinge vor Gericht etwas zurechtrücken. Wenn der Hundebesitzer meint, unschuldig zu sein, befindet er sich gehörig im Irrtum. Nach Paragraf zweihundertdreißig des Strafgesetzbuches ist nämlich jeder wegen fahrlässiger Körperverletzung zu bestrafen, der den körperlichen Schaden eines ändern dadurch verursacht, dass er den vermeidbaren und vorhersehbaren Schaden durch Sorglosigkeit nicht verhindert. Im Klartext heißt das, dass Ihre Großmutter nicht verletzt worden wäre, wenn Herr Bertram Harrer seinen Benno angeleint hätte. Staatsanwalt und Richter werden ihm das sehr unmissverständlich klar machen.“
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