Doch zurück zur Geschichte. Ich flog, da sich in den unteren Räumen nur Lakaien zu befinden schienen, in den ersten Stock. Aha. In einem großen Saal, vermutlich ein Audienzraum, fand ich die Verwaltungsspitzen. Sie lümmelten an einem großen Tisch, tranken Wein und zählten Goldstücke. „Das sind wahrscheinlich die Weihnachtssteuern, die ihr den Menschen abgenommen habt, ihr Gauner!“, dachte ich und beobachtete ein wenig das Geschehen. Ein großer Fettwanst mit schmierigen Haaren schien der Präfekt zu sein, der Uniform nach zu urteilen. Ein dürres Männlein mit schlecht gepuderter Perücke schrieb unablässig Zahlen in ein Buch, das war bestimmt der Kämmerer. Ein harmloses Bürschchen, mit dem würde ich leichtes Spiel haben. Die anderen in der Runde schienen bedeutungslos zu sein. „War das nicht eine superbe Idee von mir, jede weihnachtliche Aktion zu besteuern? So haben wir wenigstens genug Geld für unsere Weihnachtsfeier gescheffelt“, kicherte ein Glatzkopf mit Hasenscharte. Meine Güte, der Kaiser der Franzosen schien nur die hässlichsten Männer nach Brühl beordert zu haben! „Deine Idee war hervorragend, Jacques. Denn seitdem Napoleon die Weihnachtsgelder gestrichen hat, sieht es für unsereins wahrhaft düster aus. Gut, dass wir eine Einnahmequelle gefunden haben!“, grunzte der Präfekt. Die Runde grölte. Ich hatte genug gehört und schämte mich für meine Landsleute. Ich musste diese Schlawiner das Fürchten lehren und den Menschen hier in der Stadt ein unvergesslich schönes Weihnachtsfest bereiten. So viel stand fest.
Aber wie? Ich brauchte Verstärkung. Und wer war da wohl besser geeignet als …? Genau. Sie haben es erraten: Clemens August, Kurfürst und Erzbischof zu Köln. Ich schwebte zu meinem Schlitten zurück und flog anschließend nach Dresden, wo er als himmlischer Paketzusteller arbeitete. Wenig später hatte ich ihn gefunden, in Schweiß gebadet und augenscheinlich ganz froh über die Unterbrechung. Kurz schilderte ich ihm den Sachverhalt, und er wurde fuchsteufelswild. „Mein schönes Schloss! Diese Hunde! Ich komme sofort mit!“, tobte er. Ehrlich gesagt, ich hätte diesem Schöngeist so einen Wutanfall gar nicht zugetraut.
Wir flogen ins Rheinland. Überflüssig zu erwähnen, dass der Chef uns von dieser Aktion lautstark abzubringen versuchte. „Einfach ignorieren!“, riet ich Clemens August, der zunächst merklich zusammengezuckt war. Gegen fünf Uhr in der Frühe kamen wir in Brühl an. Unterwegs hatten wir bei diversen Apothekern ausreichende Mengen Laudanum besorgt, genug, um das Schloss in einen drei Tage andauernden Tiefschlaf zu versetzen. Wir kippten die Beruhigungsmittel in die Speisen und Getränke der immer noch feiernden Besatzer. Dann schwebten wir in den Wald, um die schönste und größte aller Tannen zu besorgen. Denn ich fand diesen neuen Brauch, Nadelbäume mit kleinen Lichtern zu schmücken, äußerst reizvoll und wollte ihn im Rheinland fest etablieren. Ich muss gestehen, ohne mich selbst loben zu wollen, dass mir das auch gelang.
Gemeinsam stellten wir die Tanne auf dem Marktplatz auf und schmückten sie festlich. Keine Menschenseele war in der Stadt zu sehen. Dann flogen wir wieder zum Schloss. Lautes Schnarchen tönte uns entgegen. Im Audienzsaal packten wir die Geldstücke in Säcke, die wir mit den Weihnachtsgeschenken unter den Tannenbaum legten. Wir transportierten Tische und Stühle zum Marktplatz. Aus Küche und Keller des Schlosses hatten wir die edelsten Speisen und Weine organisiert, die wir zu einem exzellenten dîner zusammenstellten. Mehrere Spanferkel drehten sich auf Spießen. Eine Truthahn-Consommé, getrüffelte Poularden, sechzehn verschiedene Bratengerichte, vierzig spanische Pasteten, eine Unzahl geräucherter Fische und gesottener Enten aus dem hiesigen Jagdrevier standen in edlen Porzellanterrinen zum Verzehr bereit. Das Herzstück der Tafel aber bildete ein Aufsatz aus Zuckerwerk, der eine Schwanenfamilie darstellte. Zum Schluss zündeten wir die Kerzen an.
Eine Zeit verging. Uns kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann erschienen einige müde Gesichter an den Fenstern. Nach einer Weile kamen die Menschen aus ihren Häusern auf dem tief verschneiten Marktplatz zusammen. Ungläubig staunend starrten sie auf den prächtig geschmückten Weihnachtsbaum und die festliche Tafel. Plötzlich rief eine Stimme: „Fröhliche Weihnachten!“ Das Eis war gebrochen. „Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten!“, schallte es über den Platz.
Clemens August und ich blickten uns an und wussten: Diesen Heiligabend würde man in Brühl so schnell nicht vergessen. „Um Himmels Willen, Alexis, ich muss wieder nach Dresden zurück. Ich bin noch nicht fertig mit der Bescherung!“ – „Ehrensache, Clemens August, dass ich dir helfe.“ Und so schwebten wir zu meinem Schlitten zurück, um Richtung Osten aufzubrechen.
Etwa über Siegen tönte die mir bestens bekannte Stimme: „ALEXIS!!“– „Ist was, Chef?“ Ich hatte beschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen. Probezeit hin oder her. „Also, Alexis,“ der Nikolaus räusperte sich, „ also Alexis, du hast den Job. Deine Probezeit ist beendet.“Na also, dachte ich. Auch wenn Sigmund Freud noch nicht geboren war: alles nur eine Frage der Psychologie.
Und zufrieden lenkte ich den Schlitten gen Dresden.
Die Geschichte von Alexis, zwei Nachbarskindern im Schnee und der Maus Sancho
Alors, mesdames et messieurs , da bin ich wieder: der unvergleichliche, unverbesserliche Weihnachtsengel Alexis, der Liebling der Armen und der Schrecken meines Vorgesetzten, des heiligen Nikolaus. Was mich – nebenbei bemerkt – überhaupt nicht tangiert. Die Hauptverwaltung unserer Behörde, die WGVHS hat mir die Kürzung meiner Pensionsansprüche angedroht, so ich weiter gegen die bei uns im Himmel bestehende WVO und die WGVRL verstoßen sollte. Aber auch das interessiert mich herzlich wenig, da mein Pensionsalter erst am Ende der Ewigkeit erreicht sein wird. Überhaupt – diese Beamtensäcke! Das Überflüssigste, was sich die Chefetage in den letzten achtzig Jahren ausgedacht hat. Und weshalb? Nur um die Weihnachtsgeschenke unter der Weltbevölkerung zu verteilen.
Die Verwaltung besteht zu 40% aus deutschen Ministerialbeamten, zu 50% aus Generälen der ehemaligen Ostblockstaaten und zu 10% aus Wiener Kaffee-Experten. Das sind die gemütlichsten Beamten. Obwohl, als Beamten kann man den Chef der himmlischen Backstuben, den Ur-Wiener Krummziebel Josef, wohl kaum bezeichnen. Er ist mein bester Freund hier oben. Und das, obwohl das Verhältnis zwischen der ehemaligen Donaumonarchie und Frankreich (man erinnere sich, ich bin Franzose!) nicht immer zum Besten gestanden hat.
Josef, von dem später noch ausführlich zu berichten sein wird, kocht den besten Kaffee. Sie kennen bestimmt den berühmten TV-Werbespot „Dieses Kaffee-Aroma – himmlisch!“ Das ist Josef Krummziebels spezielle Mischung, die er zu Lebzeiten (1896-1937) kreiert hat. Dabei ist er der genialste Zuckerbäcker, den die Welt und der Himmel je gesehen haben. Doch ich schweife wieder mal ab. Ich wollte Ihnen heute erzählen, was sich in der Bonner Beethovenstraße kurz vor Weihnachten im Jahr 1938 zugetragen hat. Beginnen wir die Erzählung also am 11. Dezember …
„Schneheflöckchen, Weissröckchen, wahann kommst du geschneit …“, sang die zehnjährige Luzie und hauchte die beschlagenen Scheiben in ihrem Kinderzimmer an. Es schneite dicke Flocken, und bald könnte es zu einer Schneeballschlacht reichen.
Luzie wollte Simon Goldmann, den Jungen aus dem Haus gegenüber, mit Schnee einbalsamieren. Er sollte vor Nässe triefen und sich einen fetten Schnupfen holen. Denn immer, wenn Luzie gerade auf dem Schulhof ihr Pausenbrot aß, zauberte Simon seine Maus Sancho aus dem Ärmel. Sancho war sein ständiger Begleiter, und Simon wusste genau, dass Luzie Mäuse nicht ausstehen konnte. „Bäh!“ Angewidert ließ sie dann ihr Butterbrot fallen und lief davon. So musste sie stets die restlichen Schulstunden mit knurrendem Magen überstehen, denn das Brot hatte Simon inzwischen brüderlich mit seiner Maus geteilt.
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