Doch je weiter ich mich von der Erde entfernte, desto mehr nahm mein Bedauern ab. Was hätte ich mit dem Schmuck anfangen sollen? Einen Hehler kannte ich nicht, und eine Geliebte, der man das Zeug an die Ohren heften konnte, hatte ich auch nicht. (Das war übrigens eine Sache, die ich hier oben vermisste. Aber wie will eine körperlose Seele sinnliche Freuden spenden?)
Jetzt wissen Sie, wie aus mir ein Weihnachtsengel wurde. Nun erledige ich den Job schon mehr als zweihundert Jahre, und in dieser Zeit habe ich eine Menge erlebt, zum Beispiel meine Landsleute, die das Rheinland besetzten und nicht eben gentlemanlike mit den Einheimischen umgingen. Ich habe die Menschen während der Weltkriege beschert, als Lebensmittelmarken unter die Weihnachtsbäume gelegt wurden. 1920 wurde mein Gebiet größer, ich hatte auch das Ruhrgebiet zu versorgen. So erlebte ich wieder eine französische Besatzung, aber diesmal auch den Widerstand der einheimischen Bevölkerung. Fast arbeitslos war ich während der Weltwirtschaftskrise. So viele hungernde Menschen auf den Straßen in der zivilisierten Welt hatte ich bis dato noch nicht erlebt – auch nicht zu meinen Lebzeiten. Das Elend war schrecklich, mir taten vor allem die Kinder leid. Während der schlimmsten Zeit, die Deutschland je erlebt hatte, unterliefen mir bei der weihnachtlichen Bescherung hin und wieder kleine „Fehler“. So mancher Nazi wird sich gefragt haben, weshalb er nur eine Packung Zigaretten auf dem Gabentisch vorfand. Und so mancher Verfolgte wird seine spätere Flucht aus der Heimat mit dem Verkauf von Pelzmänteln oder Juwelen finanziert haben, die überraschenderweise unter dem Christbaum lagen.
Doch mit der Zeit war die Arbeit für einen einzigen Engel pro Region angesichts des Bevölkerungswachstums nicht mehr zu bewältigen, und die Wirtschaftswunderjahre sorgten für einen drastischen Anstieg des Paketaufkommens. Gelegentlich habe ich nun Verstärkung, es sind die sogenannten „Weihnachtsengelassistenten“, die mir ein wenig zur Hand gehen. Auch habe ich hier oben Freunde gefunden, allen voran den Krummziebel Josef, den obersten Chef der hiesigen Backstuben, oder Billy Koslowsky, einen ehemaligen „Hell‘s Angel“. Von beiden wird in meinen histoires noch ausführlich zu berichten sein. Das Verhältnis zu meinem Chef ist leider nicht immer ungetrübt, doch auch davon später mehr. Aber obwohl in manchen Jahren das Damoklesschwert der Suspendierung über meinem Haupte schwebte, beschere ich weiter nach individuellen Maßstäben.
Die Verteilaktion wird heutzutage nach modernen logistischen Gesichtspunkten organisiert. Die modernen Turbo-Wolken haben größere Ladekapazitäten und fliegen schneller. Tja, man muss eben mit der Zeit gehen …
Die Geschichte von Alexis, einer Weihnachtssteuer, hässlichen Franzosen und einem hilfsbereiten Kurfürsten
Heute erzähle ich vom Weihnachtsabend des Jahres 1810. Meine Probezeit als himmlischer Paketzusteller sollte just am Ende dieses Tages seinen Abschluss finden. Als gebürtiger Franzose hatte ich Teile der Rheinprovinzen bescherungsmäßig zu versorgen. Das Gebiet beschränkte sich in diesem Jahr auf die Linie Köln/Koblenz, allerdings nur linksrheinisch. Napoleon hatte sich diesen und andere Landstriche ein paar Jahre zuvor einverleibt. Die Menschen lebten hier unter französischer Verwaltung, unter dem Joch von Bonapartes Armee – noch. Denn nur wenige Jahre später sollte sich das Rad der Geschichte drehen und dieses Gebiet an Preußen fallen.
Ich muss gestehen, dass ich Napoleon nicht besonders mochte. Schon wegen dieser Sache mit den kaiserlichen Schatzkammern – nach meinem Geschmack viel zu gut bewacht. Diverse Bürger hatten bereits versucht, dort ihr Einkommen mittels Selbstbedienung ein wenig aufzubessern. Wie ich von meiner Wolke hatte beobachten können, stets ohne Erfolg. Entweder landeten sie im Kerker, wo sie einen äußerst unwirtlichen Aufenthalt genossen – oder auf dem Schafott. Die armen Kreaturen taten mir in der Seele leid, denn zu Lebzeiten war ich Alexis, der Schrecken der kaiserlichen und königlichen Finanzdepots, gewesen. So manchem Kämmerer hatte ich unverhoffte Freizeit beschert, da die Bestandsaufnahme der mit Louisdors gefüllten Geldsäcke an einigen Tagen sehr schnell erledigt gewesen war. Selbstverständlich behielt ich nicht alles für mich, man hat schließlich auch als Dieb ein soziales Gewissen. Außerdem hatte ich Tantiemen an Teilhaber zu zahlen, ohne die diese Aktionen nie hätten stattfinden können. Die Summe der Schweigegelder an die königlichen Chargen war ebenfalls beträchtlich gewesen. Doch ich will mich nicht beklagen. Gemessen am heutigen Spitzensteuersatz waren diese Abgaben akzeptabel gewesen.
Doch kehren wir zurück in das Jahr 1810. Als ich am Weihnachtsmorgen im himmlischen Paketverteilungszentrum, heute WGVHS genannt, ankam, stutzte ich. Seit einigen Jahren praktizierte ich diesen Job nun schon, und nie waren Pakete für die Brühler Bevölkerung dabei gewesen. Warum?
Ich dachte nach. Es war ja noch früher dunkler Morgen, genug Zeit also, um der Sache auf den Grund zu gehen … „Alexis! Ich warne dich! Wenn du wieder Extratouren einlegst, wirst du gekündigt – und zwar fristlos!“, tönte eine mir bestens bekannte Stimme. Ich wagte einen Protest. „Aber Chef, da stimmt doch was nicht, da müsste man doch mal …“ Doch der Nikolaus fiel mir ins Wort: „Gar nichts musst du, Alexis, sondern nur bescheren. Du bist stellvertretender Weihnachtsmann und nicht Sherlock Holmes!“Angesichts der angespannten Situation verschwieg ich lieber, dass die Geburtsstunde des Privatdetektivs erst einige Jahrzehnte später schlagen würde und gab Gas.
„Okay, Chef, bin schon unterwegs!“
Selbstverständlich würde ich die Angelegenheit weiter verfolgen, das war doch klar. An diesem Weihnachtsabend bescherte ich in einem nahezu höllischen Tempo. Statt wie üblich die Geschenke auf die Tische zu legen, schmiss ich die Pakete nach guter alter englischer Sitte durch die Schornsteine. Um elf Uhr war ich fertig. Ich parkte meinen Schlitten über dem Waldgelände von Schloss Augustusburg und schwebte in die Brühler City. Hier herrschte eine traurige Stimmung! Keine Kerzen in den Fenstern, keine Buchsbäumchen, an die man Talglichter gesteckt hatte. Die wenigen Menschen, die durch die Stadt liefen, sahen sehr unglücklich aus. Ich konnte sie allerdings nicht nach dem Grund fragen, denn man ist als Engel in der Fähigkeit zu kommunizieren doch sehr eingeschränkt. Ich konnte lediglich die Gespräche der Menschen belauschen, und das tat ich dann auch. Als ein älteres Ehepaar den Marktplatz überquerte, flog ich neben ihnen her. „Weißt du noch, wie wir früher Weihnachten gefeiert haben? Die ganze Familie saß beisammen, erzählte sich Geschichten und aß Lebkuchen. Die Kerzen brannten und die Kinder spielten miteinander. Das war schön!“, sagte die Frau. „Jaja!“, seufzte der Mann wehmütig. „Seitdem dieser Präfekt in der Stadt ist, macht das Leben keine Freude mehr. Er blutet uns aus mit seinen Steuern!“, fuhr er fort. Die Frau nickte. „Und jetzt noch dieser Weihnachtszehnt! Die Ernte war dieses Jahr so schlecht, es bleibt kaum etwas zum Leben.“
Ich hatte genug gehört. Der Präfekt der Stadt schien also schuld zu sein an dieser Misere. Ich flog los, Richtung Schloss. Dort hatte sich die Präfektur eingenistet. Ich schwebte an den uniformierten Wachen vorbei durch das wunderschöne Treppenhaus in einen herrlichen blau-weiß gekachelten Speisesaal und weiter durch die angrenzenden Schlafzimmer und Salons. Das hier war zwar nicht Versailles, aber für rheinische Verhältnisse doch ganz comme il faut . Ich gratulierte dem bayrischen Erbauer Kurfürst Clemens August posthum zu seinem wirklich ausgezeichneten Geschmack. Nebenbei bemerkt: Auch ihn hatte der Nikolaus als stellvertretenden Weihnachtsmann zwangsverpflichtet. Geradezu eine Umwälzung der politischen Verhältnisse! Ein Adeliger, der im frühen neunzehnten Jahrhundert, wenn auch nur für einen Tag, als Dienstleister für die niederen Schichten des Volkes tätig ist!
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