Nervös tastete ich über das Tattoo in meinem Nacken, das den meisten wegen meiner langen Haare verborgen blieb. Es war ein kleiner Schutzengel, der mir Kraft und Ruhe gab.
Bisher war es für mich nie unmittelbar um Tote gegangen, und jetzt blickte ich erstmalig auf eine. Das Foto zeigte die Fundstücke fein säuberlich zu einem Knochengerüst zusammengefügt. Sie waren nicht Furcht einflößend, erinnerten vielmehr an meinen Biologieunterricht in der achten Klasse, als uns Tom, das Schulskelett vorgestellt wurde und wir Schüler vom Amboss bis zur Speiche des Wadenbeins alle menschlichen Knochen persönlich kennenlernten.
Okay, um mich für meine Aufgabe zu stärken und mein Mantra zu zentralisieren, tastete ich noch mal den Engel im Nacken ab. Alles klar.
Ich griff zum Telefonhörer, räusperte mich aufgeregt und wählte die Nummer der Stadtverwaltung Köln. Nach vier Fehlversuchen und etlichem Weiterverbinden wegen nicht zuständig sein, landete ich nach einer gefühlten Ewigkeit bei einem Sachbearbeiter. Endlich, freute ich mich – verfrüht …
„Guten Morgen, ich bin Sara Lange von der Kripo Köln. Wir haben ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Fund der sterblichen Überreste einer Frauenleiche, deren Knochen kürzlich auf Ihre Anweisung hin im Krematorium in Mechernich eingeäschert wurden.“
„Ja, und welche?“
„Welche was?“
„Welche Fragen?“
„Ach so! Wir würden gerne versuchen, sie über ihre familiären Verhältnisse und die Daten in ihrem Ehering zu identifizieren und bräuchten dazu dringend Akteneinsicht. Und den Ring.“
„Aha.“
Langsam wurde ich wütend. Wie träge war der denn?
„Könnte ich die Sachen bei Ihnen abholen lassen?“
Ich visualisierte meine Vorstellung von ihm. Bestimmt saß er zurückgelehnt in einem abgehalfterten Bürostuhl, schaute genervt an die Zimmerdecke und kaute an seinem Rotstift, mit dem er im Laufe des Tages Bewilligungen aus dem Leben Bedürftiger strich.
„Ja, sicher. Aber frühestens morgen.“
Als ich ansetzte mich aufzuregen, hatte er längst aufgelegt und sich vermutlich seinem Büroschlaf gewidmet. Mannomann!
Das frustrierende Gespräch mit der Stadt Köln sollte mich nicht entmutigen, ermahnte ich mich. Als ich allerdings am Folgetag die angeforderten Dokumente in der Hand hielt, verschwand mein Enthusiasmus dramatisch unter null. Betrachtete man die gesamte Bearbeitungskette, war mein Telefonat mit dem Sachbearbeiter noch das Harmloseste. Die maßlose Gleichgültigkeit im Umgang mit der toten Frau lag nun schwarz auf weiß vor mir und eine Annäherung an die Identität der Person rückte in weite Ferne. Es gab nichts Verwertbares, und ich konnte mir nur mit Mühe vorstellen, wie ich aus einer DIN A 4 Seite, auf der nichts weiter vermerkt war, als die Anzahl der unvollständigen Knochen, eine Zusammenstellung der drei Fundstücke, die mit der Leiche im Zusammenhang standen oder stehen konnten und dem Hinweis „Natürlicher Tod“, für weitere Ermittlungen brauchbare Erkenntnisse ziehen sollte. Immerhin wurde bei der Knochenschau deutlich, dass ein großes Stück der Schädeldecke fehlte und man davon ausgehen konnte, dass der Skalp zu dem Häufchen Asche gehörte, dass nun anonym beerdigt auf Melaten lag. Im Moment schien mir nur die Gravur im Ehering hilfreich, um überhaupt an Informationen zu kommen. Der große, rote Stempelaufdruck „Krematorium“ auf dem Dokument erstickte wie erwartet jede Hoffnung, weitere Spuren zu erheben. Ihre DNA war längst in der flammenden Hölle zu Staub geworden.
Ich würde trotzdem, oder jetzt erst recht, tiefer in den Fall abtauchen und meine ganze Energie aufwenden, der Toten einen Namen zu geben.
Einige Tage verstrichen und inzwischen kümmerten sich die anderen Kollegen längst wieder um das Tagesgeschäft und ihre Gedanken an „Heidi“ waren verblasst. So ist das eben bei der Polizei – ich würde mich daran gewöhnen müssen, statt mich hoffnungslos an die Akte und ein paar Knochen zu klammern.
Immerhin konnten wir klären, dass das verfilzte Haar und die im Kiefer steckenden Zähne mal mit ein und demselben Kopf verbunden waren. Die Recherche im Hinblick auf eine mögliche Tasche blieb hingegen ergebnislos. Nach und nach hatte ich die Fundämter im Großraum Köln befragt. Alle meldeten negativ. Keine Handtasche oder andere abgegebenen Fundstücke in dieser Region.
„Ein Versuch war’s wert, Sara“, versuchte Frank mich aufzumuntern, der meine zahlreichen Anrufe bei sämtlichen Sammelstellen der Stadt mitverfolgt und mich immer wieder dasselbe hatte sagen hören.
„Es war wirklich ein guter Ansatz. Ich glaube, da wären wir Männer so schnell gar nicht drauf gekommen.“ Vielleicht hatte er ja recht und sein Trost war ernst gemeint. „Lass uns einen Haken an die Sache machen. Sie frisst sonst unsere Energie. Am besten schreibst Du einen Fünfzeiler in unser Polizeiportal, berichtest kurz über den Fund und darüber, dass wir mangels Hinweisen die Sache abschließen und davon ausgehen, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt.“ Ich schaute ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Wie, natürlicher Tod?“ Ganz selbstverständlich und als hätte er nie etwas anderes angenommen, meinte er: „Ist so – frag halt nicht!“
Also verkniff ich mir weitere Fragen – aber ganz aufgeben wollte ich noch nicht. Ich schrieb den kurzen Bericht, so wie Frank es wollte, setzte ihn in unser Portal und ließ die Akte in meiner Schublade verschwinden. Man weiß ja nie. Auf jeden Fall würde ich „Heidis“ Ehering für unsere Datei professionell ablichten und auf seinen Wert schätzen lassen. Dazu steckte ich ihn in eine kleine Schachtel und brachte diese zu unserem Kurierdienst, der die Fahrt zu einem Sachverständigen für Schmuckstücke in die Kölner Innenstadt übernahm. Darüber und über meinen Plan, für heute die Arbeit niederzulegen, informierte ich Andreas auf dem Weg Richtung Ausgang des Polizeipräsidiums.
„Habt ihr noch was für mich oder kann ich Feierabend machen?“, säuselte ich ihm ins Ohr, damit er sofort erkannte, dass es nur eine Antwort gab.
„Klar kannst Du abhauen. Wir haben nichts mehr.“
„Daaaanke“, jubelte ich und verschwand in der Menschenmenge der Kalker Hauptstraße, bis die nächste U-Bahn-Station mich verschlang und die Bahn mich am Neumarkt wieder ausspuckte. Ich machte alles, was in den letzten Wochen zu kurz gekommen war. Shoppen, Eis essen, weiter shoppen, was anderes essen, weiter shoppen. Es war herrlich und ich fuhr beschwingt nach Hause. Für morgen nahm ich mir vor, die Akte „Heidi“ zu schließen und den Fall hinter mir zu lassen. Die anderen hatten vermutlich doch recht: Natürlicher Tod!
Die polizeiliche Ignoranz machte ihn wütend und es begann, schmerzhaft in ihm zu brodeln. Sage und schreibe vier Jahre hatten sie gebraucht, die Tote zu finden. Erst ein Typ aus Bayern musste dafür durch die Wahner Heide reisen und über die Knochen stolpern. Hätte er Name und Adresse, würde er ihm dafür ein Geschenk schicken oder gar einen Orden. Dankbar war er jedenfalls. Die Polizei hatte es nicht hinbekommen, das Opfer zu finden, geschweige denn, das Verbrechen an der Frau zu bemerken. Sie hatten sie jahrelang ignoriert und nicht einmal mitbekommen, dass sie verschwunden war. Die Nummer Eins auf seiner Liste. Dabei hatte ihre Leiche mitten in der Wahner Heide gelegen – sozusagen auf einem Präsentierteller. Nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Und, als wäre die polizeiliche Ignoranz nicht schon genug, taten sie es nach ihrem Auffinden in einem lächerlichen Fünfzeiler, zu allem Überfluss und lapidar, auch noch als natürlichen Tod ab. Lächerlich! Er war frustriert, hätte alleine deswegen schon wieder ausrasten können und hoffte doch sehr, dass sein zweites Opfer deutlich schneller gefunden werden würde. Es war zum jetzigen Zeitpunkt noch in voller Schönheit und wartete darauf, die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Und auch dieses Mal war es nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Die Kraft für die tagtägliche, vergebliche Hoffnung auf einen Bericht über das Auffinden der nächsten Leiche, konnte und wollte er nicht ein weiteres Mal aufbringen. Seine Werke verdienten mehr Respekt. Sie sollten Aufsehen erregen und für Schlagzeilen auf den Titelseiten der Presse sorgen. Und endlich jedem verständlich machen, dass es keine andere Wahl für ihn gab und, dass er noch nicht am Ziel war. Noch lange nicht!
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