„Ein Journalist, der für einen Artikel über Bombentrichter und andere Relikte des Militärs in der Wahner Heide recherchierte, hat das Haarbüschel dort gefunden und die Polizei verständigt. Der hat es sich allerdings auch nicht nehmen lassen, die Geschichte exklusiv dem EXPRESS zur Verfügung zu stellen.“ Er zeigte auf die reißerische Titelseite, die den Journalisten mit dem verfilzten Mopp in der Hand zeigte. „Konzentrier‘ Dich am besten nur auf das wenige Wesentliche.“ Er blätterte einfach weiter und hielt mir nun den Bericht der involvierten Polizisten inklusive der Zeugenaussage eines Herrn Gruber unter die Nase. „Vielleicht lässt sich ja mit dem, was wir haben zumindest die Identität klären. Der Rest ist wie gesagt leider schon durch den Kamin in Mechernich“, erklärte er mir und verdrehte jetzt seine kompletten Gesichtszüge. „Gibt’s Fragen?“, wollte mein Chef noch wissen.
„Gab es keine Handtasche?“, fragte ich.
„Wie bitte?“
„Ist dort oder in der Nähe keine Handtasche gefunden worden? Eine Frau geht doch nicht ohne Handtasche!“
Er verharrte vor meinem Schreibtisch und nestelte an seinen Bartstoppeln.
„In die Natur offenbar schon – sie hatte jedenfalls keine dabei oder sie war längst weg. Du kannst ja mal im Fundbüro nachfragen. Willst Du sonst noch was wissen?“
„Nein, alles klar.“ Mist, da wollte er gerade gehen und mir fiel ausgerechnet jetzt noch etwas ein: „Das heißt, eine Frage habe ich noch: Vermutest Du ein Verbrechen?“
„Schwer zu sagen. Durch das schnelle Vorgehen …“, er brach den Satz ab, weil er selber merkte, dass seine Anklage den Kollegen gegenüber allmählich zu weit ging. Etwas sachlicher fuhr er fort: „Es wurden leider keine tiefergehenden Untersuchungen durchgeführt oder Spuren an den Knochen, geschweige denn am Fundort gesichert. Aber vielleicht lässt sich noch auf anderem Wege etwas rausfinden. Wir haben ja jetzt zumindest Haarreste.“ Die Frisur war seine Hoffnung. „Zusammen mit den Zähnen, die mit den Knochen gefunden wurden, lässt sich wenigstens klären, ob beides zu ein und derselben Person gehört.“
Voller Vorfreude auf meine vor mir liegende Arbeit war ich gedanklich längst abgedriftet und wusste nicht, was ich noch sagen könnte. Den Moment, in dem mein Chef wieder verschwand, konnte ich kaum abwarten. Um meine Ungeduld zu unterstreichen, scharrte ich mit den Füßen unter meinem Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf der Arbeitsplatte. Er verstand es nicht und setzte mit seinen gut gemeinten Ratschlägen fort.
„Am besten nimmst Du zuerst Kontakt mit der Stadt auf und beauftragst das Ordnungsamt, damit wir Akteneinsicht und den Ring, der noch an den Knochen steckte, bekommen. Nicht, dass die noch auf die Idee kommen, damit ihre Kosten zu verrechnen“, schlug er vor, anstatt zu gehen. „Und veranlasse bitte die Haaranalyse. Hoffentlich haben wir eine passende DNA.“
Warum macht er nicht gleich alles selbst? , fragte ich mich.
„Ja, okay!“ Ich blieb wortkarg, um noch verständlicher zu zeigen, dass er mich durchaus mit meinem Teil der Sache jetzt allein lassen konnte und mit mir aktuell kein weiterer Dialog möglich war. An Empathie mangelte es Andreas sonst nicht, aber heute blieb er in der Sache unsensibel.
„Finde irgendetwas heraus, was nicht in der Akte steht.“ Pause. Ich presste die Lippen zusammen und verkniff mir jede Konversation. Das animierte ihn allerdings nur, fortzufahren. „Und sollte es sich doch bestätigen, dass unsere Leiche eines natürlichen Todes gestorben ist, oder Dir weitere Ermittlungen aussichtslos erscheinen, kannst Du die Akte schließen.“
Leichen können nicht sterben , dachte ich und war geneigt, es auszusprechen. Da war er aber endlich gegangen.
Ziel und meine primäre Aufgabe hier im Präsidium sollte irgendwann in absehbarer Zeit die eigenständige, administrative Unterstützung von insgesamt sechs Kriminalisten sein. Je selbstständiger ich dabei agierte, desto besser – hatte mir der Personalchef bereits in meinem Vorstellungsgespräch ziemlich deutlich gesagt. Und genau darauf arbeitete ich seit dem ersten Tag akribisch hin. In den letzten Wochen hatte ich viel beobachtet, gelernt und mich langsam an die Polizeirealität herangetastet. Nach der Probezeit und einer damit einhergehenden Einarbeitungsphase würden die Tätigkeiten ausgedehnt und ich wäre dann in der Lage, eigene Erkenntnisse in die Ermittlungen zu tragen. Wenn alles gut lief, war dieser kleine Fall ein Quantensprung.
Meine Vorgesetzten und die besten Chefs der Welt, sind der eben erwähnte Andreas Kurani, 50 Jahre alt, Kriminaloberkommissar und Frank Labonte, 44 Jahre alt, sein Stellvertreter, ebenfalls Kriminaloberkommissar. Beide scharfe Analytiker und hervorragende Kriminalisten, aber ansonsten absolut unterschiedlich. Während Andreas sehr introvertiert und – sieht man mal von seinem Monolog von eben ab – eher still und einsilbig auftritt, ist Frank immer und überall präsent. Sobald er einen Raum betritt, füllt er ihn mit seinem Charisma. Bääähm! Auch optisch ist er genau das Gegenteil von Andreas. Es kommt nicht selten vor, dass Frank wie für ein Männermodemagazin gestylt, nach teuren Parfüms duftend und im Designeranzug auf der Arbeit erscheint und die reinste Provokation für diejenigen ist, die morgens aus dem Bett und in ihre nichtssagenden Klamotten vom Vor- und gerne auch mal vom Vorvortag springen. Andreas gibt sich eher so, wie man einen typischen Kriminalbeamten aus dem Fernsehen kennt. Etwas mürrisch, ansonsten kernig und sportlich. Auch optisch. Jeans, Shirt, Turnschuhe. Fertig. Vier weitere Beamte und ich sind den beiden unterstellt. Während sie ermitteln und die Arbeiten am und rund um den Tatort vornehmen, hüte ich in der Regel unser Büro im Linksrheinischen am Rande der Kölner Innenstadt. Kalk – am Puls der Kriminalität und mitten im sozialen Brennpunkt der Stadt.
Die Kollegen aus meiner Truppe sind immer die Ersten an einem Tatort und in mehreren Schichtdiensten rund um die Uhr im Einsatz. Sie werten zusammen mit den Mitarbeitern der Spurensicherung die frühen und unangetasteten Spuren aus, bevor die Vorgänge dann mit der Mordkommission gemeinsam ermittelt werden. Erst wenn ein Verbrechen mit Todesfolge aufgeklärt ist oder es nach dem Ablauf einer bestimmten Zeit nicht gelöst werden kann, wird die Mordkommission verkleinert und das Dezernat XI wieder abgezogen. Es kommt dann auch vor, hängt aber vom Arbeitsaufkommen der verschiedenen Abteilungen ab, dass wir Vermisstenfälle mit übernehmen oder im kleinkriminellen Milieu, beziehungsweise bei der Drogenfahndung ermitteln.
Nach über zwanzig Jahren im Vertrieb einer Versicherung in Köln, kam ich als absolute Quereinsteigerin und in relativ fortgeschrittenem Alter zur Polizei und genoss in diesen ersten Wochen noch die volle Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen und eine Art Welpenschutz. Es gefiel mir, die Verantwortung auf anderen breiten Schultern zu wissen und nicht selber im Fokus zu stehen. Am 1. Januar war für mich mit dieser Stelle ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Und trotz einer ausgiebigen Silvesternacht mit wenig Schlaf und meines ersten Feiertagsdienstes war ich voller Motivation und mit viel Vorfreude gestartet. Ich war stolz, diese Chance zur rechten Zeit für mich erkannt und angenommen zu haben. Schon seit Kindheitstagen wollte ich zur Polizei. Allerdings war es in meiner Generation zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit verbreitet, sich zur Polizeibeamtin ausbilden zu lassen und in den Jahren danach war ich viel zu bequem geworden für eine solche Veränderung, die damals wie heute erhebliche finanzielle Einbußen bedeutet.
Gefangen in meinem persönlichen Rückblick schweifte ich ab und war so vertieft im eigenen Gedankenuniversum, dass ich den Vortrag meines Chefs von vorhin trotz der vielen Informationen nicht mehr abrufen konnte und jetzt krampfhaft überlegte, was er mir so lange und breit angeraten hatte. Nachfragen zu müssen, wäre natürlich der Supergau und an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Also kramte ich in allen Gehirnschubladen, fand langsam zurück in einen Konzentrationsmodus, der die Hinweise in einer Art Endlosschleife vor meinen Augen umherflimmern ließ, bis ich wieder in der kriminalistischen Spur war und mir einfiel, dass ich zuerst bei der Stadt Köln anrufen wollte.
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