Seine Korrespondenzen, seine Notizen und Abschriften sind derart zahlreich, dass sich leicht erklären lässt, wozu der eingangs einigen Geistlichen befremdlich erschienene Riesensafe dient, dessen Inhalt allein einer einzigen Person bekannt ist: Papst Leo.
Der Heilige Vater hat es sich längst „bequem gemacht“ und sitzt in einer beigefarbenen, blau gestreiften arabischen Djellabah vor den vor ihm ausgebreiteten Schriftstücken. In Material und Machart ist dies ein nahezu identisches Kleidungsstück, wie er es einst als Knabe und Heranwachsender in seiner ostafrikanischen Heimat getragen hat.
Diese Art Hemd, meist knöchellang und kragenlos, mit langen Ärmeln, tragen heute noch die meisten Männer bei ihm zuhause. Vor allem in der Freizeit sind Djellabahs bequemer als Jeans. Sie sind luftig, kneifen nicht, engen „unten“ nicht ein (!) und schützen gleichzeitig vor Hitze und Insekten.
Leo XIV. liebt diese stillen Nachtstunden, in denen er sich ganz allein und ungestört jenen Dingen widmen kann, die ihm wirklich am Herzen liegen. Dass dazu immer seltener die Gesellschaft von Monique gehört, betrachtet er nicht wirklich als sein Problem. Er ist der Meinung, sie fühle sich wohl. Aber im Grunde denkt er kaum über seine Geliebte und ihre Gefühlslage nach.
Tagsüber ist es im Vatikan oftmals sehr hektisch; aber niemals fiele es ihm ein, seine alltäglichen Pflichten zu vernachlässigen. Seine Heiligkeit hat sich in kürzester Zeit zu Recht den Ruf erworben, ungeheuer schaffensfroh, unternehmungslustig und fleißig zu sein.
Dazu gehören nicht nur Empfänge von Staatsoberhäuptern, die allesamt von ihm und seinem Charme, gepaart mit Intelligenz und Humor, schwärmen, und von Abordnungen einfacher Gläubiger, die ihn hinterher wegen seines ausgesprochen liebenswürdigen Wesens nicht minder in den Himmel heben, weil er es versteht, jedem Einzelnen die Illusion zu vermitteln, er würde sich ganz explizit nur für ihn und seine Probleme interessieren …
Diese ganz spezielle Art, mit anderen Menschen umzugehen, sie zu betören und einzuwickeln, hat er bereits als ganz junger Mann zur Kunstform erhoben. Damit schafft der Heilige Vater es, auch Leute, die keine Sympathie für ihn empfinden, ja, die ihm eigentlich feindselig gegenüberstehen, am Ende doch noch für sich einzunehmen.
Zu den Dingen, die er sich selbst auferlegt, gehört auch das Absolvieren zahlreicher Reisen rund um den Globus. Etwas, das ihn weit über die Hälfte seiner Zeit vom Kirchenstaat fernhält.
Eine Tatsache, die dem Heiligen Vater nicht unlieb ist; wohl fühlt er sich nämlich im Kirchenstaat keineswegs, obwohl er „die Schlangengrube von den schlimmsten Ottern und Vipern gesäubert“ hat, wie er seiner zunehmend frustrierten Geliebten Monique in ruhigen Augenblicken gerne mal verrät. Es will ihr einfach nicht gelingen, Maurice’ Aufmerksamkeit auf ihre Person zu lenken; banal ausgedrückt möchte sie, dass er endlich wieder einmal mit ihr zu schlafen geruht.
Die Einladungen in sämtliche Winkel der Erde stapeln sich geradezu. Und Leo Africanus ziert sich nicht; er ist Reisender aus Leidenschaft. Angst vor Attentaten empfindet er keine.
Daraufhin angesprochen zitiert er oft und gerne den schönen Satz: „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. (Weisheiten 3, 1).“
Eine beinah kindlich zu nennende Neugier auf Orte des Erdballs, die ihm bislang unbekannt gewesen sind, treibt ihn in immer kürzeren Abständen dazu an, ein Flugzeug zu besteigen. Er plant bereits eine neue Pastoralreise, oder „Missionstour“, wie er es nennt.
„Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, dass es in der Welt eine große segnende Kraft gibt, welche Gott heißt.“
(Martin Luther King)
„Überall empfängt man dich, mein Liebster, mit großer Begeisterung und geradezu überschwänglicher Freundlichkeit!“
Schwester Monique ist beeindruckt über diese gar nicht so selbstverständliche Tatsache: Bekanntlich ist „Kirche“ und alles, was dazu gehört, derzeit nicht gerade besonders „in“. Und diese Aversion ist keineswegs nur auf den Kontinent Europa beschränkt. Umso erstaunlicher die Beliebtheit des „Leo Africanus“. „Man lobt deine geistreichen Predigten, in denen du ‚der Tugend der Humanität das Wort redest und dabei eine Sanftmut und Milde ausstrahlst, die deine Zuhörer förmlich verzaubert’: So stand es zumindest neulich im Corriere de la Sera!“
„Weißt du, Liebes“, der Heilige Vater lächelt geschmeichelt, antwortet aber gespielt bescheiden: „Vielleicht liegt es daran, dass ich grobe Fehler vermeide. Etwa Schnitzer von jener Art, die sich einst einer meiner Vorgänger, ein Papst aus Polen, geleistet hat.
Der brachte es doch tatsächlich fertig, in einer Predigt in Südamerika ausgerechnet vor einem Indio-Publikum zu behaupten, die einstige Invasion der Spanier mit all ihren Gräueln sei ‚ein ausgesprochener Segen und ein großes Glück für die indigene Bevölkerung’ gewesen! Das Wort ‚Invasion’ hat er natürlich nicht benutzt und von ‚Gräueln’ war selbstverständlich auch keine Rede.“
Monique scheint irritiert; darüber hat sie noch nichts gehört.
„Ja, meine Liebe, das hat er tatsächlich so formuliert! Im Grunde hätten die damals heidnischen Indios doch geradezu auf die katholischen Weißen gewartet, damit diese ihnen die Segnungen des Christentums brächten! Und in der Tiefe ihres Herzens wären sie – damals wie heute – dankbar dafür gewesen.“
Der Heilige Vater kann ein bitteres Lachen nicht mehr zurückhalten.
„In der Tat ein starkes Stück angesichts der Ermordung und Versklavung Hunderttausender indigener Bewohner und der brutalen Zerstörung ihrer einzigartigen Hochkultur! Ein Aderlass, von dem sie sich nie mehr erholt haben.“
„Das ist ja unglaublich! Davon habe ich nichts gewusst“, erwidert Schwester Monique und kann ihren Widerwillen nur schwer verbergen.
„Da konnte dieser Heilige Vater ja von Glück sagen, dass man ihn nicht ausgepfiffen oder mit Tomaten beworfen hat! Es wäre auch kein Wunder gewesen, wenn sie ihn sofort aus dem Land komplimentiert hätten.“
„Von wegen! Geklatscht und gejubelt hat das dämliche Volk!“, regt Leo sich noch nachträglich auf. Dann senkt er etwas die Stimme: „Aus verständlichen Gründen ist man damals aber auch nicht gerade mit diesem Teil seiner Ansprache hausieren gegangen. Schließlich waren ja nicht alle ungebildet und viele wussten durchaus Bescheid, wie das mit den ‚frommen Spaniern’ damals tatsächlich abgelaufen ist.“
„Du sprichst von Papst Johannes Paul II., nicht wahr? Das war doch jener Papst, der das Zweite Vatikanische Konzil am liebsten ungeschehen gemacht hätte! Ich meine, davon gehört zu haben. Eigentlich hätte dieser Heilige Vater mit seinen Ansichten zwei-, dreihundert Jahre früher leben sollen. Ich erinnere mich, ebenfalls gelesen zu haben“, fügt die schwarze Ordensfrau dann leiser und kopfschüttelnd hinzu, „dass gleich nach seinem Tod seine Anhänger auf dem Petersplatz ‚Santo subito!’ geschrien und seine sofortige Heiligsprechung verlangt haben!“
Aber Leo Africanus hört Monique bereits nicht mehr zu; er widmet sich weiter ganz intensiv der Abfassung einer Predigt, die er in Kürze zu halten gedenkt. Barmherzigkeit und Milde, Verständnis und Verzeihen soll sie zum Ausdruck bringen. Der Heilige Vater hat aus den Reaktionen auf seine verunglückte „Antrittsrede“ im Petersdom gelernt …
Für die Ausarbeitung seiner Reden und Predigten und für Überlegungen, seine ganz speziellen Pläne betreffend, bleibt ihm meist nur die Zeit nach der „Geisterstunde“, die er zu nutzen pflegt, ehe er sich in den frühen Morgenstunden zur Ruhe begeben kann. Was ihn allerdings nicht daran hindert, jeden Morgen bereits um sechs Uhr wieder aufzustehen. Gut, dass Seine Heiligkeit zu jenen Menschen gehört, die mit wenigen Stunden Schlaf auskommen, worauf er auch nicht wenig stolz ist. Leo Africanus betont oft und gerne, dass er diese großartige Eigenschaft mit Napoleon Bonaparte teile …
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