Die kulturellen Barrieren erwiesen sich als der schwierigste Teil. Im Gesundheitswesen und wohl auch anderswo geht es bei Veränderungen immer gleich um die Frage: „Bedeutet das, ich hätte bisher schlecht gearbeitet?“ Selbst, wenn Mitarbeitende mit großem Engagement dabei sind, genügt das, was man bisher gemacht hat, oftmals nicht mehr. Man muss mit Daten argumentieren und auch mit Daten Verbesserungen begleiten. Organisationale Resilienz angewendet auf ein interdisziplinäres Notfallzentrum bedeutet: Egal zu welchem Zeitpunkt ein/eine Patient:in zu uns kommt und woran er/sie leidet, wir müssen ihm genau das geben, was er/sie jetzt braucht. Diesen einfachen Anspruch einzulösen, ist in der Umsetzung anspruchsvoll.
Abb. 2 Die 5% der besten und 5% der schlechtesten Krankenhäuser 6
Das sind die kulturellen Unterschiede der 5% besten Spitäler und der 5% schlechtesten Spitäler in Bezug auf die Behandlungsergebnisse bei der Diagnose Herzinfarkt. Das ist eine sehr spannende Übersicht, und wir sehen hier Unterschiede im Mindset. Medizinische Qualität bedeutet im Alltag, dem/der Patient:in das geben zu können, was sie oder er jetzt braucht. Jene Teams, die sich mit der Realität konfrontieren und datenbasiert Verbesserungen begleiten, sind besser.
Wie erreichen wir organisationale Resilienz durch die Lean-Denkweise?
Organisationale Resilienz erreichen wir, indem wir:
1. Sinn vermitteln.Denn wie wollen wir erreichen, dass sich die Mitarbeitenden hinter uns scharen, wenn sie nicht einmal wissen, weshalb? Organisationen, die ihre Mission vor die kurzfristigen finanziellen Ziele stellen, haben es in Krisenzeiten einfacher. Diese Sicht passt hervorragend zum ersten Lean-Prinzip (s. Kap. 4). PDO („purpose driven organizations“) haben erwiesenermaßen eine höhere Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Mitarbeitenden zu erklären, weshalb wir gewisse Dinge auf eine bestimmte Art und Weise tun müssen, gehört zu den Grundaufgaben guter Führung. Mutig führen bedeutet oftmals, etwas komplett anders zu machen, als man es bisher gemacht hat, ungeachtet der bisher verfolgten Strategie oder der Geschichte der Organisation. In den meisten Fällen bedeutet das, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen, um zu erreichen, was notwendig ist.
2. Einen robusten Alltagsbetrieb anstreben.Wenn uns der Alltag bereits überfordert, wie können wir dann eine Krise bewältigen? Das kriegt man hin mit Lean. Zur Erinnerung: Lean ist das Betriebssystem einer modernen Organisation. Das ist die Basis. Viele Führungskräfte in Krankenhäusern schwadronieren von Visionen, Innovationen und Digitalisierung – und dabei läuft der eigene Betrieb alles andere als stabil. Wir erweisen den Mitarbeitenden in Gesundheitsorganisationen einen großen Dienst, wenn wir stabile Prozesse installieren, die im Alltag störungsfrei laufen. Patient:innen bringen ausreichend Variabilität ins System. Da und dort ist auch etwas Reserve erforderlich, um Schwankungen aufzufangen. Wer nicht seine ganze Energie in Feuerwehrübungen verschwendet, kann sich diese Reserve leisten. Die Prozessprinzipien von Lean, ursprünglich vom Automobilhersteller Toyota eingeführt und erprobt, schaffen Stabilität: Das fünfte Toyota-Prinzip postuliert, dass es erheblich zur Robustheit des Alltagsbetriebs beiträgt, wenn man etwas beim ersten Mal richtig macht. Fließende Prozesse vermeiden Verschwendung und helfen, Fehler und Stress zu vermeiden. Sie bringen Probleme an die Oberfläche, die durch die Kultur der kontinuierlichen Verbesserung schnell gelöst werden können. Ausgeglichene Prozesse gemäß dem vierten Toyota-Prinzip bieten eine Basis für eine resiliente Zusammenarbeit.
3. Das Alltagsgeschäft in der Tiefe gut zu verstehen, ist die Grundlage jeglicher Problemlösungen. Nur so können wir angemessen reagieren, wenn etwas schiefläuft. Ein Tagesmanagement nach Lean einzuführen, schafft klare Kommunikationswege und sorgt dafür, dass Probleme nicht in der mittleren Führungsebene stecken bleiben. Wie können wir wissen, wo wir stehen, wenn wir nicht jeden Tag mit unseren Mitarbeitenden darüber sprechen? Feedback ist zentral, um organisationales Lernen voran zu bringen. Dazu gehört auch, vor Ort zu gehen und zu schauen, wie die Dinge wirklich sind. Wenn man als Führungsperson etwas nicht versteht, kann man es sich erklären lassen. Die Mitarbeitenden machen das gern, solange man ihnen mit Respekt begegnet.
4. Die Mitarbeitenden mit ihren Problemen nicht allein zu lassenund sie zu ermuntern, Probleme selbständig zu lösen, liest sich wie eine Selbstverständlichkeit. Probleme ohne Schuldzuweisungen zu benennen und möglichst umgehend Unterstützung anzubieten, schafft Vertrauen, ohne das es keine gute Führung gibt. Wie können wir widerstandsfähiger werden, wenn uns jeden Tag dieselben Probleme daran hindern, einen guten Job zu machen? Viele Krankenhausmanager:innen haben alle Hände voll zu tun, die Probleme aus dem Alltagsbetrieb zu bewältigen und finden kaum Zeit, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern.
5. Sich an den Besten messen.Wie sollen wir Mitarbeitenden und Führungspersonen klarmachen, dass es eine Verbesserung braucht, wenn wir es nicht objektiv beweisen können? Oder wie schützen wir uns vor zu kurz gedachten Interpretationen, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, gründlich hinzuschauen? Erfolgreiche Organisationen sind selbstreflexiv, das heisst sie haben keine Scheuklappen, über sich selbst nachzudenken und ihre Schwächen zu benennen. Objektive Daten sind eine große Hilfe in Verbesserungsprozessen. Es geht nicht darum, alles Mögliche zu messen, sondern dort anzusetzen, wo man den größten Hebel hat.
6. Sicherstellen, dass alle mit der gleichen Basis arbeiten(nach Standards) und diese Standards gezielt weiterentwickeln. Wie sollen wir uns verbessern, wenn wir nicht einmal wissen, wie gearbeitet wird? Zur digitalen Transformation gelangt man nur, wenn Standards entwickelt und gelebt werden.
1 Siehe beispielsweise Ausserhofer et al. 2014.
2 Siehe beispielsweise Horesh et al. 2008.
3 Holmes u. Rahe 1967.
4 Rosenbaum 2020.
5 af Ugglas et al. 2012–2016.
6 Curry et al. 2011.
2019 veröffentlichte die Europäische Kommission einen Bericht zum Gesundheitszustand in der EU. Gesundheitssysteme von 30 Ländern (EU28 plus Island und Norwegen) wurden auf ihre Stärken und Schwächen analysiert.
Ziel des Berichts war es, die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, die Effektivität, Zugänglichkeit und Belastbarkeit ihrer Gesundheitssysteme zu verbessern. Im Bericht bezieht sich die Effektivität auf das Ausmaß, in dem Gesundheitsdienste in der Lage sind, die Gesundheit der Bevölkerung, die Qualität der Versorgung, die Patientensicherheit und die Patientenerfahrung zu verbessern. Zugänglichkeit umfasst das Prinzip, dass jede:r EU-Bürger:in das Recht auf eine zeitnahe und bezahlbare Gesundheitsversorgung von guter Qualität hat. Das Konzept der Belastbarkeit oder auch Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit des Gesundheitssystems, sich wirksam an sich verändernde Umgebungen, plötzliche Schocks oder Krisen wie beispielsweise Covid-19 anzupassen. Im Alltag von Gesundheitsinstitutionen ist dieses Prinzip in der Anwendung einfach zu verstehen: Sind wir in der Lage, einem/einer Patient:in das zu geben, was sie oder er jetzt braucht?
Die analysierten Länder sehen sich mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Österreich liegt bei den Todesfällen, die auf verhaltensbedingte Risikofaktoren wie Ernährungsrisiken, Rauchen, Alkoholkonsum und geringe körperliche Aktivität zurückzuführen sind, über dem EU-Durchschnitt (Effektivität). In Ungarn, Lettland und Litauen ist die vermeidbare Sterblichkeit sogar mehr als doppelt so hoch als im EU-Durchschnitt (Effektivität). Die Bettendichte in Deutschland ist EU-weit am höchsten und die Zahl der Ärzt:innen und Krankenpflegekräfte pro 1.000 Einwohner ist in Deutschland höher als im EU-Durchschnitt (Effektivität/Zugänglichkeit). In Schweden werden die langen Wartezeiten im Gesundheitswesen und die Rekrutierung von Expert:innen in ländlichen Gebieten als Probleme identifiziert (Zugänglichkeit).
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