Auf der individuellen Ebene wissen wir inzwischen recht viel über resilientes Verhalten. Klar ist, dass Kontrollüberzeugung eine wichtige Variable ist. Menschen unterscheiden sich darin, wie sie Situationen wahrnehmen und sich dabei verhalten. Kontrollüberzeugung ist eines der Basiskonzepte der Psychologie. Glaube ich daran, dass ich mit meinen Entscheidungen und mit meinem Handeln Einfluss nehme auf den weiteren Verlauf meines Lebens, oder glaube ich, dass andere dies tun? Erst dann können Vorerfahrungen erfolgreicher Bewältigung greifen. Negative, plötzlich auftretende, also nicht vorhersehbare, von außen aufgezwungenen Ereignissen – wie die Erkrankung an Covid-19 – sind besonders schwer zu bewältigen. Sie stellen hohe Anforderungen an die faktische und emotionale Anpassungsfähigkeit von Individuen und Organisationen. Eines ist aber gewiss: Mit dem richtigen Mindset und gemeinsam geht es besser.
Was ist nun die Resilienz einer Person? Es ist die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, ohne dabei unterzugehen. Genau dasselbe gilt für Unternehmen. Da geht es ausserdem noch darum, mögliche Veränderungen zu antizipieren und sich rechtzeitig darauf vorzubereiten.
Gegenüber der Managementliteratur gibt es aus Sicht der psychologischen Forschung drei wichtige Präzisierungen:
1. Auch positive Ereignisse können belastend sein und müssen bewältigt werden;
2. Es geht nicht nur um psychische Gesundheit, sondern auch um physische Widerstandsfähigkeit;
3. Resilienz ist eher ein Mindset, weniger ein Persönlichkeitsmerkmal. Die Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt, spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Was hilft aus Sicht der Psychologie bei der Bewältigung auf individueller Ebene?
Emotionale Stabilität: Akzeptanz, positive Emotionen, positive Selbstwahrnehmung.
Kognitive Fähigkeiten: Selbstwirksamkeitserwartung, Vorstellungskraft, Kontrollüberzeugung, Kohärenzgefühl.
Interaktionale Faktoren: Soziale Unterstützung, Empathie, Achtsamkeit.
Persönlichkeitsvariablen: Risikofreude/Angstlevel, Offenheit, realistischer Optimismus.
Die Überzeugung, dass es immer weitergeht und der nächste Schachzug die nächste Chance bietet, hilft bei der Bewältigung.
Resilienz eines Notfallzentrums
Die Resilienz einer Organisation ist viel schwieriger zu fassen als jene einer Person. Hier gibt es viel weniger Evidenz aus der Forschung. Die organisationale Resilienz umfasst kulturelle, emotionale, strukturelle und prozessuale Elemente. Ingenieur:innen und Betriebswirtschaftler:innen, die zu diesem Thema forschen und publizieren, fokussieren gern auf die eher technischen Aspekte organisationaler Resilienz. „Business Continuity“ ist ein Konzept, das wertvoll ist, aber nur einen Teilaspekt organisationaler Resilienz berührt. Wir gehen heute davon aus, dass die kulturellen und emotionalen Aspekte den mehr technischen vorgeschaltet sind. Unternehmen und deren Mitarbeitende tun sich schwer, in einer Situation der Veränderung die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen.
Der Untergang von Kodak ist ein Paradebeispiel für das Festhalten an Glaubensgrundsätzen. Weil man nicht an die Zukunft der digitalen Fotografie glauben mochte, hielt man an überholten Technologien fest. Lieber untergehen, als den Glauben zu verlieren. Unternehmenskulturen schränken das Denken ein und damit auch die Fähigkeit, Dinge anders zu sehen und neue Verhaltensmuster zu entwickeln. Eine ganz zentrale Frage im Zusammenhang mit organisationaler Resilienz ist, wie viele Bewältigungsressourcen sich neben dem Tagesgeschäft mobilisieren lassen. Wenn das Tagesgeschäft bereits alle Ressourcen konsumiert, bleibt keine Kraft mehr für Veränderung, Innovation und Krisenbewältigung.
Ein Beispiel, wie organisationale Resilienz mithilfe des Lean-Gedankens weiterentwickelt werden kann, soll dies verdeutlichen. Nehmen wir das Notfallzentrum eines Zentrumsspitals in einer Wintersportregion. Da kommen gestürzte Abfahrer, verletzte Alpinisten aller Art, Herzinfarktpatienten, Seniorinnen mit Schlaganfällen, Hobby-Heimwerker mit Schnittverletzungen, Hochbetagte mit Schwächeanfällen, schwerverletzte Gleitschirmfliegerinnen, im Winter Snowboarderinnen, Skitourengänger, Lawinenopfer und Skipistenfahrerinnen mit Polytrauma, Menschen allen Alters, in die Notaufnahme. In der Zwischensaison treffen im Notfallzentrum um die 60 Patient:innen täglich ein, in der Hochsaison sind es bis zu 180 Patient:innen täglich, also rund dreimal mehr. Es sind nicht nur mehr Patient:innen, sondern auch der Schweregrad der Verletzungen ist im Schnitt deutlich höher. Man könnte meinen, diese Schwankungen ließen sich durch eine bessere Personalausstattung auffangen. Das ist aber nur teilweise der Fall. Organisationale Resilienz ist nicht nur eine Frage der bereitgestellten Ressourcen.
Während der Wintersaison gab es an über 70 Tagen die Situation, dass Patient:innen aus Platzgründen auf den Krankenhausflur gleich neben dem interdisziplinären Notfallzentrum gelegt werden mussten. Gefühlt war das praktisch jeden Tag. Das Notfallteam hatte sich über die Jahre an diese Situation gewöhnt. Man empfand das „normal“. Man muss dazu sagen, dass es keine gute Idee ist, Kranke auf dem Flur zu deponieren. Das Behandlungsergebnis ist schlechter, es gibt mehr Komplikationen und die Mortalität ist höher 5.
Das Ziel des neuen Chefarztes des Notfallzentrums war es, nie mehr eine/ n Patient:in im Flur zu platzieren. Zwei Jahre später war es soweit: Es war die erste Wintersaison ohne Patient:innen auf dem Flur. Wie hatte das Team das geschafft? Erstens haben sie es als Problem anerkannt und sich gemeinsam ein Ziel gesetzt: keine Patient:innen mehr auf den Fluren. In der Folge wurden Erzählungen durch Daten und Fakten ersetzt. Aufgrund der höheren Unternehmenstransparenz war es möglich, Kapazitäten und Prozesse am 85-igsten Perzentil auszurichten. Argumente wie: „Geht denn das, wenn drei Hubschrauber und drei Rettungsfahrzeuge gleichzeitig kommen?“ haben sich erübrigt. Das gab es in den letzten fünf Jahren nie und wird es auch in den kommenden fünf Jahren nicht geben. Durch die Ausrichtung am 85-igsten Perzentil wurde der Alltagsbetrieb robuster. Dadurch werden jetzt auch die Ausnahmesituationen viel besser bewältigt. Um die Resilienz der Organisation zu verbessern, müssen die Mitarbeitenden beginnen, sich mit Statistik und Fakten auseinander zu setzen. Anschließend geht es an die Prozesse. Sie wurden simuliert, getestet und das Ergebnis gemessen.
Eine wichtige Rolle spielte die Standardisierung der Zusammenarbeit im Team: der Normalbetrieb soll störungsfrei bewältigt werden und außergewöhnliche Situationen sollen besser antizipiert werden. Gleich zu Beginn ein Team bestehend aus einem/einer qualifizierten Ärzt:in und einer Pflegefachperson mit dem/der Patient:in zusammen zu bringen, hat die Prozesse beschleunigt und gleichzeitig die Patientenzufriedenheit verbessert. Dadurch wurde die Parallelisierung von Prozessen möglich: ärztliche Verordnung von Beginn weg, pflegerische Tätigkeiten anstelle von Triage und Administration und das alles in einem Arbeitsgang.
Am härtesten war es, die Praxis der Triage durch die Pflege in die neuen Standards zu integrieren. Das existierende Triage-Konzept hatte man erst vor wenigen Jahren eingeführt. Ein neuerlicher Wechsel war schwierig zu akzeptieren. Es war herausfordernd, die Pflege davon zu überzeugen und die eben gewonnene Autonomie dem Teamgedanken zu opfern.
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