Sie trinken Wodka um Wodka, bis sie ihn küsst und ihm den Schnaps in den Mund spritzt
Überhaupt hat sie etwas gegen sentimentale Volkslieder
Vergebens schaut er sie an: Sie will nicht sagen, wo oder wer der Tänzer ist, und macht eine resignierte Bewegung, als verscheuche sie eine Fliege
Nachfragen hilft nicht, sie weicht aus; stattdessen macht sie sich über die schwangeren Matroschkas lustig und sagt vertrackte Sachen
Natascha wendet ihr den Rücken zu, als sie ein weiteres Schälchen Kaviar auf den Tresen stellt
Jetzt weiß er, an wen ihn der Tänzer erinnert. Das Lauernde, sein jähes Emporschnellen, es ähnelt jenem Jack in the Box, der an Dolphins drittem Geburtstag aus der Schachtel sauste und ihm einen gewaltigen Schreck einjagte
Die ärmellose Weste über der nackten Haut und das Schillern des Stoffs an ihrem Gesäß, das, von Ausprägung und Vollkommenheit her, an eine Ballerina erinnert, aber das sagt er ihr nicht. Vielleicht hat sie auch etwas gegen das Bolschoi
Zu den vertrackten Sachen gehört: Frauen als Austräger fremder Wünsche, das mache sie schwerfällig und anfällig für die Vermehrung
Da sie sich zu drehen beginnt, würde er nur zu gerne Schienen um ihren Barhocker legen und sie auf einem Wägelchen umrunden, um sie zum Stillstand zu bringen
Jack in the Box hatte auf Deutsch komischerweise Springteufel geheißen, aber rot lackiert waren sie überall
Sie winkt ab, als er sie nochmals fragen will, und steigert sich in eine Suada hinein und wütet gegen die Reproduktion der Gattung. Was hat sie bloß gegen Kinder?
Alkohol reinigt, auch wenn er aus fremden Mündern kommt
Irgendwann verbeugt sie sich wie ein Zirkusdirektor, nimmt mit todernster Miene die blonde Perücke ab und schreit auf einmal: Hereinspaziert!
Als er Stunden später wieder aufwachte, fiel es ihm siedend heiß ein. Er hatte tatsächlich das Interview mit Professor Fischer verschlafen, ein Interview, mit dem er letzten Endes Lord Bakerfield und auch dessen Freund Churchill zu überraschen gedachte. Mit einem Satz sprang er auf und rief seinen Fotografen an. Der Verleger hatte Wort gehalten, das musste man ihm lassen, und noch dazu das Budget des Berliner Büros aufgestockt.
Hirohito teilte ihm in knappen Worten mit, er habe drei Stunden vor dem Kaiser-Wilhelm-Institut auf ihn gewartet, dann mit der Sekretärin telefoniert, die auch nichts von Dolphins Verbleib wusste.
Ob er mit Professor Fischer gesprochen habe, fuhr Dolphin dazwischen und hob nervös die Stimme.
Aber natürlich, entgegnete Hirohito, er habe dem Herrn Institutsdirektor mitgeteilt, es könne sich nur um einen Notfall handeln, der den Redaktionsleiter davon abhielt, das lange geplante und für den Sunday Standard wie die britische Politik so bedeutsame Interview zu führen, und er sei sich sicher, bald werde man den Grund erfahren und erhielte dann die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen, so denn der Herr Direktor weiterhin zur Verfügung stünde, was dieser mit einem spontanen Kopfnicken bestätigte.
Dolphin war erleichtert. Hirohito hatte ihn gerettet. Der japanische Bauhaus-Absolvent war ein Glücksfall. Wenn er die deutschen Wörter so sorgfältig aussuchte, als hielte er ein Werkstück gegen das Licht, wenn er sie inspizierte und dann zurechtfeilte, um sie mit der Präzision eines Feinmechanikers in verschachtelte Konstruktionen einzupassen, musste Dolphin an dessen maschinenhafte Konzentration denken, die ihn in die Lage versetzte, in der Diffusion des Augenblicks das Bild zu erkennen. Vor allem, wenn er Menschen porträtierte, erinnerte er Dolphin an einen Zenmönch, der hinter die sichtbare Wirklichkeit schaut, wo das Wesen der Dinge aufscheint. Eigentlich hieß er ja Hiro, doch Dolphin neckte ihn mit dem Namen des japanischen Gottkaisers, was dieser jedes Mal mit einem verlegenen Lächeln zurückwies.
Der Himmel war von der Hitze ausgebleicht, und ein Flimmern, das an die Farben von Benzinpfützen erinnerte, lag über dem Asphalt, als Dolphin seinen Wagen unweit des Kaiser-Wilhelm-Instituts abstellte. Schon von Weitem erblickte er Hirohito im Schatten eines Lindenbaums. Er war ausgerüstet mit einer sandfarbenen Schildmütze samt extralangem Nackenschutz und sah aus wie ein Wüstenlegionär, der sich entschlossen gegen die Sonne verteidigte. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt und schaute mit stoischer Miene mal durch das Objektiv, mal auf den Belichtungsmesser. Leise schlich Dolphin sich heran und fragte dann mit lauter Stimme:
»Na, Hiro-san, was sagt dein Belichtungsmesser?«
Er spürte eine diebische Freude, und tatsächlich, Hirohito nannte, nachdem er zusammengezuckt war, zuerst die Zahl, bevor er schließlich den Kopf schüttelte.
»Aber Herr Dolphin, mir scheint doch, Hiro sei auf alle Fälle genug.«
Er wartete, bis sein Fotograf den Eingang samt Bronzekopf abgelichtet hatte, und dann wurden sie in Fischers Büro geführt, der sie mit allerlei Erfrischungen willkommen hieß.
Dolphin schlug vor, sofort mit dem Interview zu beginnen. Während der Anthropologe ausführlich über seine Feldstudien im ehemaligen Deutsch-Südwest zu sprechen begann und in aller Detailliertheit den Hintergrund und die Begleitumstände der Untersuchungen schilderte, machte Hirohito sich an seinen Kameras zu schaffen und probierte verschiedene Einstellungen aus.
Dolphin füllte Seite um Seite des Notizblocks. Zum Abschluss des Interviews drückte ihm der Professor sein Standardwerk über die Rehoboter Bastards in die Hand, das er sogleich am Konferenztisch mit einer persönlichen Widmung versah und mit Verve signierte.
Als Hiro ihn bei diesem Akt fotografierte, regte Fischer an, eine Porträtaufnahme von ihm am Schreibtisch vor dem Fenster anzufertigen. Sicher wie ein Schauspieler präsentierte er sein eindrucksvolles Profil, als er in der Schublade eine Fotografie hervorkramte und das Bildnis einer jungen Hererofrau betrachtete.
Unter eifrigem Nicken ermunterte Hiro den Professor, in dieser Pose zu verharren, was Dolphin, der ganz in der Nähe des Schreibtischs stand, die Möglichkeit gab, das Porträt der Südwestafrikanerin näher zu betrachten. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er spürte eine dunkle Faszination. War sie hübsch? Welche Kriterien gab es für Schönheit bei einer anderen Rasse? Wenn jemand von der Schönheit von Schwarzen sprach, klang es, als rede er von der Schönheit von Tieren. Aber es war eine Sanftmut in ihren Augen, die ihn irritierte. Ein Leuchten, das auf alles um sie herum abzustrahlen schien.
Als Hiro den Film wechselte, ergriff der Wissenschaftler die Gelegenheit, auf eine Bibliotheksleiter zu steigen. Aus dem obersten Regal zog er ein Buch heraus, das er als ungemein nützliche Studie bezeichnete, um die ethnische Zusammensetzung des Landes und die rassischen Eigenheiten der verschiedenen Stämme besser zu verstehen. Während Fischer wieder herabstieg, wandte Hirohito sich an Dolphin und fragte, ob man nicht auch zusätzliche Porträtaufnahmen im Garten des Instituts machen könne. Beim jetzigen Sonnenstand würde das Spiel von Licht und Schatten zu interessanten Ergebnissen führen, vor allem, weil der Herr Professor selbst im südwestafrikanischen Felde bei ähnlichen Lichtverhältnissen fotografiert haben mochte.
Fischer war von dem Vorschlag begeistert. Bevor er dem Fotografen in den Garten folge, wolle er Mr. Dolphin noch schnell das Buch geben samt einer Mappe mit historischen Fotografien und weiteren Dokumenten der damaligen Kolonialverwaltung.
Gemeinsam stiegen sie die Treppe zur Pforte hinab, wo Dolphin sich von Fischer verabschiedete.
»Wir sehen uns in der Redaktion, Hiro-san«, sagte er zu dem Japaner gewandt und freute sich daran, wie der mit ärgerlicher Miene den Kopf schüttelte. Zufrieden setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los. Er hatte nun alle Informationen beisammen. Hiro, da war er sich sicher, würde wieder jene suggestiven Bilder beisteuern, für die er bekannt war. In aller Ruhe konnten sie dann an der Gestaltung der Titelgeschichte arbeiten und verschiedene Layouts ausprobieren, mit jener engen Verzahnung von Text und Bild, wie der Verleger sie als Gebot des modernen Zeitalters formuliert hatte. Mit dem Ergebnis, davon war Dolphin gleichfalls überzeugt, würden Bakerfield und Churchill mehr als zufrieden sein können.
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