Auch wenn Voltaire im Grunde keine neuen Argumente vorträgt, erreichen seine Kompilationen eine Schärfe und Aggressivität, die sich vor allem aus der vorrevolutionären Situation in Frankreich erklären lassen. Gleichwohl hat er durch seine Popularisierungen nicht unwesentlich zur weltweiten Ausbreitung der Ressentiments|40◄ ►41| gegenüber dem traditionellen Kirchenglauben beigetragen. Seine Kritik ist zugespitzt als Herrschaftskritik gegen die Kirchen, die er unverblümt für den Atheismus verantwortlich macht:
Wenn es Atheisten gibt, ist niemand anders daran schuld als die gedungenen Zwingherrn der Seelen, die uns gegen ihre Schurkereien aufbringen und manche schwachen Geister dazu zwingen, den Gott zu leugnen, den diese Ungeheuer schänden. 46
Schon das kurze Zitat verdeutlich, dass sich Voltaire auch angesichts seiner radikalen Kritik nicht zu den Atheisten rechnet, sondern diese eher als ‚schwache Geister‘ betrachtet. Vielmehr bleibt er in der Linie des Deismus und bezeichnet sich selbst als einen Vertreter der ‚natürlichen Religion‘:
Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß. Der große Name Theist, der nicht genügend verehrt wird, ist der einzige, den man annehmen sollte. Das einzige Evangelium, das man lesen sollte, ist das große Buch der Natur, das Gott mit seiner eigenen Hand schrieb und dem er sein Siegel aufdrückte. Die einzige Religion, zu der man sich bekennen sollte, ist die, Gott zu verehren und ein anständiger Mensch zu sein. Es ist dieser reinen und ewigen Religion ebenso unmöglich, Böses zu vollbringen, wie es dem christlichen Fanatismus unmöglich war, das Böse nicht zu tun. In dieser natürlichen Religion wird man nicht sagen können: Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das aber ist das erste Glaubensbekenntnis, das man dem Juden in den Mund legt, den man Christus genannt hat. 47
Zugleich kann Voltaire Jesus als einen Theisten bezeichnen, der allerdings zu einem Opfer seiner Umstände und seiner späteren Dogmatisierungen geworden ist:
Weder Jesus noch irgendeiner seiner Apostel hat je gesagt, er habe zwei Naturen und eine Person mit zwei Willen, seine Mutter sei die Mutter Gottes, sein Geist sei die dritte Person Gottes, und dieser Geist sei vom Vater und vom Sohne erzeugt. Wenn sich auch nur einer dieser Glaubenssätze in den vier Evangelien findet, so möge man ihn uns zeigen: Man streife alles von Jesu ab, was ihm fremd ist, was ihm zu verschiedenen Zeiten während der schändlichsten Glaubensstreitigkeiten und auf den sich voller Ingrimm wechselseitig mit Bannfluch belegenden Konzilien zugeschrieben worden ist; was bleibt dann von ihm übrig? Ein Vertreter von Gott, der die Tugend gepredigt hat, ein Feind der Pharisäer, ein Gerechter, ein Theist. Wir wagen zu behaupten, wir seien die einzigen, die seines Glaubens sind, der das Universum aller Zeit umfaßt und folglich der einzige wahrhafte Glaube ist. (485)
Es geht Voltaire darum, die Religion, die sich zu Recht so nennen darf und deshalb auch zu schützen ist, konsequent von dem Aberglauben zu trennen:
Die Religion, sagt ihr, sei für eine Unmenge Missetaten verantwortlich; sagt lieber, es sei der Aberglaube, der auf unserer trüben Erde herrscht: Er ist der schlimmste Feind der reinen Verehrung, die wir dem höchsten Wesen schuldig sind. Verabscheut dieses Monstrum, das immer |41◄ ►42| wieder den Schoß seiner Mutter zerrissen hat. Wer es bekämpft, ist ein Wohltäter des Menschengeschlechts. Wie eine Schlange erstickt es die Religion mit seinen Windungen. Man muß ihr den Kopf zertreten, ohne die Religion, die von ihr vergiftet und zerfleischt wird, zu verletzen. 48
Es ist deutlich, dass das aufklärerische Pathos selbst einen eigenen Exklusivismus mit sich bringt, der in einer unauflöslichen Spannung zu der zugleich betonten Forderung der Toleranz zu stehen kommt. Am deutlichsten treten die Grenzen dieser Toleranz in Erscheinung, wenn sich Voltaire – durchaus in weitreichender Übereinstimmung insbesondere mit den Vertretern der französischen Enzyklopädie 49– über die Juden äußert und dabei ohne Zögern auf das zeitgenössische Arsenal des Antisemitismus zugreift:
Sie werden in ihnen nur ein unwissendes und barbarisches Volk treffen, das schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Haß gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich bereichern. 50
Wenn Voltaire ausdrücklich an Gott und der Religion in der Prägung des Deismus festhalten will, sieht er in ihnen ein Instrument zur Wahrung der Moral und der Ordnung, das vor allem durch die Annoncierung von Lohn und Strafe funktioniert. Das ist der Hintergrund für seine berühmte Äußerung: Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsse er erfunden werden. Allerdings wäre es eine Verkürzung, wenn Gott nur als der wachende Richter zur Disziplinierung der Menschen angesehen wird. Es findet sich vielmehr bei Voltaire auch noch eine andere Seite, die gegen jede Unterstellung eines Zynismus bei der Verordnung von Religion gefeit ist. Gott spricht nämlich nach Voltaire auch heilsam das Trostbedürfnis des Menschen an, denn ohne Gott hätte die Welt keinen Halt und keine Hoffnung. Eine Welt ohne Gott ist wie ein unendliches Meer ohne Hafen – ein ähnliches Bild taucht dann später bei Nietzsche (→ § 4,2.6) wieder auf. Neben den gesellschaftspolitischen Gründen kennt Voltaire auch existenzielle Motive, an Gott festzuhalten. Diese sind ausreichend für eine entschlossene Verteidigung des Theismus. Alle anderen Gründe für den Glauben und die Religion weist er entschieden ab.
Bei dem Zweifel, in dem wir uns befinden, rate ich euch nicht mit Pascal, euch an das Sicherste zu halten. Es gibt nichts Sicheres im Ungewissen. ... Ich mache euch nicht den Vorschlag, ungereimtes Zeug zu glauben, um euch aus der Verlegenheit zu helfen. Ich sage nicht zu euch: Geht nach Mekka und küßt den schwarzen Stein, um euch zu erleuchten, nehmt einen Kuhschwanz in die Hand, legt ein Skapulier an, seid einfältig und fanatisch, um die Gunst des höchsten Wesens zu erlangen. Ich sage euch: Seid weiterhin tugendhaft und wohltätig, betrachtet weiterhin jeden Aberglauben mit Abscheu und Mitleid, aber verehrt mit mir den |42◄ ►43| Plan, der sich in der ganzen Natur offenbart, und dementsprechend den Urheber dieses Planes, die erste Ursache und den Endzweck des Ganzen; hofft mit mir, daß unser Wesen, welches auf das große ewige Wesen schließt, eben durch dieses große Wesen glücklich sein kann. Darin liegt kein Widerspruch. Ihr werdet mir nicht beweisen, daß dies unmöglich ist, und ich kann euch nicht mathematisch beweisen, daß es sich so verhält. In der Metaphysik schließen wir fast nur auf Wahrscheinlichkeiten; wir schwimmen alle in einem Meer, dessen Gestade wir nie gesehen haben. Wehe denen, die beim Schwimmen miteinander in Streit geraten! Jeder sehe zu, wie er an Land kommt; aber wer mir zuruft, Du schwimmst vergeblich, es gibt keinen Hafen!, der nimmt mir den Mut und raubt mir alle meine Kräfte. 51
H. Baader (Hg.), Voltaire (WdF 276), Darmstadt 1980 G. Holmsten, Voltaire, Reinbek 2002
7. Jean-Jacques Rousseau
Der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) weitet die aufklärerische Kritik an der überkommenen Religion auf die Kultur aus und setzt auf das Glück eines naturnahen Lebens.
Wenn Jean-Jacques Rousseau in die Reihe der Aufklärer gestellt wird, so ist er zugleich insofern deren Kritiker, als er die Aufklärung mit ihrer Grenze konfrontiert. Dem von der Aufklärung in die Vernunft und den Verstand gelegten Pathos entzieht Rousseau seine Letztgültigkeit, indem er auf die besondere untrügliche Kraft der Intuition setzt, die in einem engen Zusammenhang mit seinem Verständnis von der natürlichen Religion steht. Die Intuition liefert unverfälschte und somit höchst zuverlässige Belehrung und Orientierung. Sie ist nicht mit dem traditionellen Verständnis von Offenbarung zu verwechseln, wie es in den Kirchen den Menschen entgegengehalten wird, sondern steht diesem vielmehr diametral entgegen. Während die Offenbarung in den aus ihr abgeleiteten umstrittenen Dogmen Parteiungen und Unfrieden schafft, beruft sich die Zuverlässigkeit der Intuition auf einen den Menschen auszeichnenden Instinkt, der ihm – wenn er nicht unterdrückt oder durch die Fixierung an die traditionellen Bindungen der Offenbarung dominiert wird – alle nötige verlässliche Orientierung für das Leben bereitstellt. Nach Rousseau ist die Rede von Offenbarung schlicht überflüssig und steht in ihrer Streitsucht dem wahren Geist des Evangeliums entgegen, denn dieser setzt auf Überzeugung und nicht auf die Akzeptanz von Wundern oder Dogmen.
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