Aus übergreifenden Regelungszusammenhängen des Grundgesetzes lässt sich eine im System des Grundgesetzes angelegte Bedeutungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG im Sinne einer Grundrechtsgeltung auch für ausländische juristische Personen nicht entnehmen. Nach dem System des Grundgesetzes können Träger von Grundrechten nur entweder jedermann oder deutsche Staatsbürger sein. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechts. Eine auf innerhalb der EU ansässige Wirtschaftsunternehmen ausgerichtete Grundrechtsträgerschaft nichtdeutscher juristischer Personen ist dem System des Grundgesetzes fremd. Diese Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG steht auch mit keiner anderen Bestimmung des Grundgesetzes in Widerspruch. Zu denken wäre allenfalls an Art. 23 Abs. 1 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europa mitwirkt und hierbei einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. In diesem Verfassungsauftrag bleibt das im Grundgesetz verankerte System des Grundrechtsschutzes als Maßstab erhalten, also auch die auf jedermann und deutsche Staatsangehörige begrenzte Grundrechtsträgerschaft. Im Recht der Europäischen Union verankerte Wirtschaftsgrundrechte von in Europa ansässigen Unternehmen gehören mit dem Unionsrecht einer gesonderten Rechtsordnung an. Bei dem in den Primärverträgen verankerten europäischen Unionsrecht und dem deutschen Grundgesetz handelt es sich um zwei unabhängig voneinander bestehende Rechtsordnungen. Zwischen ihnen bestehen keine systematischen Regelungszusammenhänge.
4. Teleologische Auslegung
Durch teleologische Auslegung wird der im objektiven Regelungsgehalt des Gesetzes enthaltende Sinn und Zweck der Regelung – also das Regelungsergebnis, das mit ihr erreicht werden soll – als Maßstab für die Ermittlung des Bedeutungsgehalts des Gesetzes herangezogen.
Im vorliegenden Fall ist unschwer zu erkennen, dass mit Art. 19 Abs. 3 GG zwar eine Erweiterung des Kreises der potentiellen Grundrechtsträger über Individuen hinaus auf juristische Personen ermöglicht werden soll. Diese Erweiterung ist aber ihrerseits auf inländische juristische Personen beschränkt, d.h. auf solche, die nach deutschem Recht gegründet worden sind und ihren Sitz in Deutschland haben. Eine teleologische Auslegung spricht somit klar gegen eine erweiterte Geltung deutscher |37|Grundrechte über Art. 19 Abs. 3 GG hinaus auch auf alle in der Europäischen Union ansässigen Wirtschaftsunternehmen.
5. Ergebnis zur ersten Fallfrage
Die Entscheidung des BVerfGs ist mit Art. 19 Abs. 3 GG nicht vereinbar.
Zweite Fallfrage: Ist die vom BVerfG angenommene Verletzung des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV durch eine Verneinung des Grundrechtsschutzes für EU-ausländische Unternehmen damit vereinbar, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nur „im Rahmen der Verträge“ gilt?
Das BVerfG hatte in der den vorliegenden Fall betreffenden Verfassungsbeschwerde des italienischen Unternehmens G die Fragen zu beantworten, ob sich in Deutschland wirtschaftlich tätige juristische Personen mit Sitz außerhalb Deutschlands, jedoch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, auf Grundrechte des Grundgesetzes berufen können. Außerdem war darüber zu entscheiden, ob der bei einem Urheberrechtsstreit letztinstanzlich zuständige BGH bei der Auslegung und Anwendung nationalen, auf Unionsrecht beruhenden Rechts das Grundrecht auf Eigentum des beschwerdeführenden italienischen Unternehmens G beachtet hatte. Seine Entscheidung, dass sich auch in Deutschland tätige juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können, gründete das BVerfG auf einen Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV). Aus diesen beiden Vorschriften des AEUV leitet das BVerfG „eine vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes“ ab.[15]
Der für den Fall einschlägige Beschluss des BVerfGs (vom 19.07.2011 – JZ 2011, 1112ff. und die Kritik an ihm)
Die Kenntnis des Begründungswegs, auf dem das BVerfG zu dem hier referierten Ergebnis seines Beschlusses gelangt ist, geht über den bei Studierenden zu erwartenden Kenntnisstand deutlich hinaus. Dasselbe gilt für die kritische Kommentierung der Entscheidung des BVerfGs durch Hillgruber (JZ 2011, 1118ff.). Die wesentlichen Positionen und rechtlichen Argumentationen des BVerfGs wie Hillgrubers sind daher referierend in das folgende „Gutachten“ einbezogen worden. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Gutachten im eigentlichen Sinne, sondern um die Präsentation eines Beispielsfalls aus der gerichtlichen Praxis, der sich gut zur Vermittlung von Grundkenntnissen zum nicht ganz einfach zu verstehenden Verhältnis von Europäischem Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht im Grundrechtsbereich eignet.
|38|1. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der G – Akt öffentlicher Gewalt
Das angegriffene Urteil des BGH ist eine Maßnahme deutscher öffentlicher Gewalt und damit ein tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Das gilt insbesondere auch für diejenigen im BGH-Urteil zugrunde gelegten Rechtsvorschriften des Urheberrechts, mit denen Umsetzungsverpflichtungen aus der unionsrechtlichen Urheberrechts-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden. Das G-Unternehmen hat die von ihm behauptete Verletzung seiner eigentumsrechtlich geschützten Urheberrechte maßgeblich darauf gestützt, dass der BGH ohne Weiteres die enge Interpretation einer – urheberrechtswidrigen – Verbreitung übernommen habe, ohne nach einem verbleibenden Umsetzungsspielraum der unionsrechtlichen Urheber-Richtlinie für den deutschen Gesetzgeber zu fragen. Hierzu führt das BVerfG aus:
„Wird … eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung darauf gestützt, dass ein Gericht bei der Auslegung nationalen Umsetzungsrechts einen den Mitgliedstaaten verbleibenden Umsetzungsspielraum verkannt habe, beruft sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung deutscher Grundrechte im Bereich des unionsrechtlich nicht vollständig determinierten Rechts. Insoweit kann er auch geltend machten, das Gericht habe sich zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden gesehen.“[16]
Mitgliedstaatliche Umsetzungsspielräume unionsrechtlicher Richtlinien – Nationales Recht
Integrationseffekte auf sekundärrechtlicher Grundlage, mit denen Erweiterungen des Unionsrechts auf Kosten der Geltung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften stattfinden, kann es nur im Umfang sekundärrechtlicher Harmonisierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten geben. Über den Umfang solcher Verpflichtungen entscheidet der Inhalt unionsrechtlicher Richtlinien.
Integrationswirkungen aufgrund von Ersetzungen uneinheitlicher mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften durch harmonisierende EU-Richtlinien treten effektiv nur in dem Umfang ein, in dem die Mitgliedstaaten ihren Umsetzungsverpflichtungen aus der jeweiligen Richtlinie tatsächlich nachkommen und ihr nationales Recht richtlinienkonform anpassen.
Erst mit diesem letzten Schritt tritt sekundärrechtliches EU-Recht an die Stelle nationalen Rechts und kann von „im Rahmen der Verträge geltendem Unionsrecht“ gesprochen werden. Für den gesamten Regelungsbereich vor diesem letzten Schritt bleibt nicht harmonisiertes nationales Recht in Kraft.
Nach Ansicht des BVerfGs steht Art. 19 Abs. 3 GG der Beschwerdefähigkeit des italienischen G-Unternehmens nicht entgegen.
In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte das BVerfG nur die Geltung prozessualer Grundrechte des Grundgesetzes für ausländische juristische Personen bejaht, diejenige der materiellen Grundrechte aber zunächst unter Berufung auf den klaren Wortlaut |39|des Art. 19 Abs. 3 GG abgelehnt.[17] In späteren Entscheidungen wurde dieselbe Frage mit Blick auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen gelassen.[18] Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage fand nunmehr erstmals im hier behandelten Beschluss vom 19.07.2011 statt.[19]
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