Das Bestreben einer empirischen Wissenschaft geht dahin, auch objektivmaterielle Wahrheit zu bieten . Das ist für die Sozialwissenschaften ein besonders wichtiges Ziel, weil sie – wie etwa Chemie und Biologie, aber im Gegensatz zur Mathematik, die keine materiellen Gegenstände hat – nur über Gegenstände forschen, die in einem allerdings sehr weiten Sinn materiell sind. Bei Gruppen, Kasten und Familien ist das leicht vorstellbar; aber auch soziales Handeln, Sozialisation und ähnliche beobachtbare Prozesse und selbst solche gedanklichen Konstrukte wie Rollen und Verhaltensmuster sind in diesem Sinn materiell, weil sich ihre Existenz durch Untersuchung ihrer Wirksamkeit in Bewusstsein und Verhalten nachweisen lässt. Im Vergleich dazu sind manche Gegenstände der Geisteswissenschaften in einem viel handfesteren Sinn materiell: als Denkmäler, gesprochene Worte, geschriebene Romane und Partituren. Aber bei ihnen interessiert weniger ihre »objektive« Seite, ihre regelmäßige sichtbare Struktur. Sie werden eher auf ihre subjektiven Absichten, Verwendungen, Interpretationen und Wirkungen befragt. Wo es dagegen in gesellschaftsbezogene Fragestellungen übergeht – etwa Verbreitung des Schülerjargons, Zusammenhänge zwischen Vorliebe für bestimmte Literatur und bestimmte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens oder schichtenspezifische Unterschiede beim Konzertbesuch –, geht es zumeist auch schon von der Sprach- und Musikwissenschaft in eine spezielle Sozialwissenschaft hinüber, weil hier nur empirisch zu klärende Sachverhalte das Thema sind.
Alles in allem muss also die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften darauf Rücksicht nehmen, dass ihre Gegenstände erstens historisch (= zeitgebunden) und oft kulturspezifisch sowie zweitens zumeist selbst handlungs- und selbstdeutungsfähig sind . Darin besteht der Unterschied zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, mit denen die Sozialwissenschaften aber den grundsätzlich empirischen Ansatz gemeinsam haben. Dieser unterscheidet sie von den Geisteswissenschaften.
Man könnte versucht sein, für die Festlegung des Begriffs der Wissenschaftstheorie von dem in Kapitel 1.1.3aufgestellten Theoriebegriff auszugehen. Es ist jedoch fraglich, ob das ein sachlich gerechtfertigter Oberbegriff ist. Denn der allgemeine Theoriebegriff hat Wissensaussagen zum Gegenstand, wenngleich auf oft relativ hypothetischem Niveau.
In der Wissenschaftstheorie kann es aber kaum um Wissen in dem Sinn gehen, wie in Kapitel 1.1.1dargelegt. Vielmehr ergibt sich aus dem bisher Gesagten als Ziel der Wissenschaftstheorie eher die Suche nach einem Konsens darüber, wie Wissenschaft betrieben werden solle, wann etwas als wissenschaftlich haltbar gelten solle, womit etwas wissenschaftlich geklärt werden solle. Es geht also um Aufstellung und Anerkennung von Regeln. Solche Regeln können auch in Satzsystemen zusammengefasst werden. Aber diese Sätze enthalten nicht Seinsaussagen, sondern Sollensaussagen. Sie stellen nicht Wirklichkeit dar, sondern Forderungen, Normen; sie beschreiben nicht, sondern sie gebieten oder verbieten. Deshalb sind Regeln, Normen, Gesetze und Ähnliches niemals ein geeigneter Gegenstand für empirische Überprüfung, so wie wir es vom Wissen verlangten. Man kann zwar empirisch überprüfen, ob das Gebot (= Norm) »Du sollst nicht stehlen« von einer Mehrheit bejaht wird oder nicht, in welchem Maße es befolgt wird und unter welchen Umständen es besonders häufig nicht befolgt wird – aber sein Inhalt, die Norm als solche, ist nicht überprüfbar. Denn die Norm sagt nicht, was ist; sie sagt, was sein soll: Überprüfbar sind aber nur Seins- und nicht Sollensaussagen .
Die Wissenschaftstheorie besteht indessen in ihrem Kern aus Sollensaussagen, wie z. B. »Wissenschaftliche Ergebnisse sollen intersubjektiv überprüfbar sein«. Die Bezeichnung als Wissenschafts theorie ist deshalb sehr unpassend, weil es sich nicht um eine Theorie im üblichen Sinne handelt. Da sie im Wesentlichen eine normative Disziplin ist 10, wäre ihre Bezeichnung als Wissenschaftslehre besser, wie sie in der Philosophie häufiger benutzt wird. Im Englischen heißt das Gebiet ganz zutreffend philosophy of science, im Französischen allerdings théorie de la science oder gar théorie scientifique. Hier wird wegen des allgemein eingebürgerten Sprachgebrauchs der Begriff »Wissenschaftstheorie« weiterhin benutzt, ungeachtet der Zweideutigkeit des Begriffs.
Alle weiteren Überlegungen basieren auf der folgenden Vorstellung von Wissenschaftstheorie:
Definition »Wissenschaftstheorie«
Eine Wissenschaftstheorie ist ein System von Sätzen mit Sollensaussagen, die angeben, unter welchen Bedingungen eine Wissensaussage als wissenschaftlich anerkannt werden soll.
Damit erweist sich – und das ist fast das einzige Unbestrittene in der Wissenschaftstheorie –, dass Wissenschaftstheorie eine Meta»theorie« ist, 11d. h. eine »Theorie« über Theorien. Sie erklärt also Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand. Hierbei könnte sie eine echte Theorie sein, wenn sie Aussagen darüber machte, was in einer Wissenschaft wirklich getrieben wird; das ließe sich durchaus als Wissensaussage = Seinsaussage empirisch überprüfen. Soweit die Wissenschaftstheorie aber nur Regeln für die Gültigkeit von Wissensaussagen aufstellt, müssen wir stets die Anführungszeichen bei -theorie mitdenken.
Daraus folgt, dass wir hier nichts treiben werden, was nach dem Kriterium richtig oder falsch beurteilt werden kann; wir treiben hier nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftspropädeutik. Eine wissenschaftstheoretische ist keine wissenschaftliche Behauptung, die falsifiziert oder verifiziert werden kann. Vielmehr ist sie die Propagierung einer Regel oder eines Beurteilungsmaßstabes in der Hoffnung, dass möglichst viele Mitglieder der Wissenschaftlergemeinde sie/ihn anerkennen und ihr/ ihm damit Geltung verschaffen. In der Wissenschaftstheorie geht es also nicht um die empirische Feststellung der Wissenschaftspraxis (das geschieht eher in der Wissenschaftssoziologie), sondern um Empfehlungen für diese Praxis. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Meinungen auf diesem Gebiet sehr zahlreich sind und in dieser Einführung nur in gelegentlichen Verweisen wiedergegeben werden können.
2 Wesentlich eingehender Breuer, S. 105–120. Vgl. auch Kornmeier, S. 4/5 m. w. N.
3 Weber, S. 38. Weitere Beispiele für Definitionsansätze bei Herzog, S. 29–31.
4 Mancher mag in der Definition schon die Lehre vermisst haben. Lehre ist aber nur nützlich zur Heranbildung der nächsten Wissenschaftlergeneration und evtl. zur Ausbildung von Berufstätigen, die wissenschaftliche Ergebnisse verwenden sollen oder müssen, ohne sie selbst produzieren zu müssen oder zu können. Das Postulat der »Einheit von Lehre und Forschung« ist daher wohl als Versuch zur betriebswirtschaftlichen Optimierung des Ausbildungswesens anzusehen, aber keine notwendige Konsequenz aus dem Wissenschaftsbegriff, für den Lehre keineswegs konstitutiv ist, schon weil es sie auch außerhalb der Wissenschaft gibt.
5 Reine Lehranstalten wären nach dieser Definition also keine wissenschaftlichen Einrichtungen, wohl aber reine Forschungsanstalten wie die Institute der Max-Planck-Gesellschaft oder des Centre National de Recherche Scientifique.
6 Hobbes, S. 69. Das Zitat geht zurück auf eine Komödie des Titus Maccius Plautus. Im Übrigen ist die behauptete Verhaltensweise der Wölfe biologisch falsch. Der Wolf ist zwar ein Raubtier, lebt in Freiheit aber in Rudeln sehr geordnet und daher friedlich.
7 Vgl. in einem noch weiteren Sinn Breuer, S. 50–64.
8 Kant a. a. O., der diesen Spruch nicht bejaht, der aber, zeitbedingt, auch einen anderen Theoriebegriff hat als den hier vorgestellten.
9 Lewin, S. 169.
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