Den zwei Sinnes- und Aktionssystemen des Redners entsprechen die beiden Sinnes- und Aktionssysteme des Rezipienten/Zuschauers: Er hört und sieht dem Redner bewusst zu und analysiert und reflektiert den Gesamteindruck in seinem Denken. Aber auch beim Rezipienten werden die meisten empfangenen Reize unbewusst verarbeitet: Die menschliche Erzeugung von Wirklichkeit ist weit überwiegend eine Denkleistung des Unterbewusstseins (Eagleman, The Brain, S. 45ff.). Durch den Mechanismus der sogenannten Spiegelneutronen findet eine überwiegend unbewusste kognitive Simulation statt, die von Elisabeth Wehling so treffend beschrieben wird: „Wir begreifen, was einer sagt, indem unser Gehirn so tut, als würden wir selbst es sagen“ (Wehling, S. 23).
Klassisches Beispieldafür ist die berühmte Untersuchung zu der Frage, welche Eindrücke wesentlich für die Einschätzung eines Redners sind: Ist es der bewusst aufgenommene Inhalt des gesprochenen Wortes? Oder sind es vielmehr die Faktoren Stimme und Mimik sowie das Aussehen? Wir wissen mittlerweile eines sicher, auch wenn die Untersuchungen hierzu im Einzelnen unterschiedliche Prozentsätze gebracht haben: Unser Zuhörer-Eindruck wird zu einem wesentlichen Anteil durch die nonverbalenFaktoren beeinflusst, sicher zu mehr als 50 Prozent. Der Anteil des bewusst wahrgenommenen Inhalts unserer Rede hat in Studien selten mehr als 25 Prozent erreicht. Moderne Neurolinguisten und Verhaltenspsychologen gehen aufgrund ihrer Forschungen sogar so weit, dass sie dem bewussten Denken nur 2 Prozent der gesamten Denkleistung zubilligen (vgl. Wehling, S. 48ff. mit weiteren Nachweisen). Eine wirkungsvolle Präsentation der nonverbalen „Show“ für unseren Redeinhalt ist daher ausschlaggebend für den Erfolg als Redner.
Die Steuerung des Redevorganges erfolgt im Gehirn über zwei „Regelkreise“, deren Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht wurde. Das Modell des Denkens über zwei Regelkreise bzw. „Systeme“ hat insbesondere das wirtschaftspsychologische Weltbild radikal verändert. Einer der prominentesten Vertreter dieser wirtschaftspsychologischen Schule ist der Psychologe Daniel Kahneman, der für die Entwicklung und Beschreibung dieses Modells im Jahr 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.
Daniel Kahneman und die zwei Systeme
Das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman erschien 2011 in den USA und ist seitdem eines der meistgelesenen Bücher zur sogenannten Verhaltensökonomie und Wirtschafts- und Kognitionspsychologie. Das Buch beruht auf den jahrzehntelangen Studien, die Kahneman mit seinen Kollegen, vor allem Amos Tversky (†) und Richard Thaler, erarbeitet hat. Kahneman und Thaler haben für ihren Anteil an den bahnbrechenden neuen Erkenntnissen der Wirtschaftspsychologie 2002 und 2017 unabhängig voneinander den Nobelpreis erhalten. Eines der zentralen Werke von Richard Thaler ist „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“, das ebenfalls 2011 erschienen ist.
Daniel Kahneman ist 1934 in Tel Aviv geboren und war als Hochschullehrer sowohl in Israel als auch in den USA tätig. Er widmete sich während seines gesamten wissenschaftlichen Wirkens in unterschiedlichsten Fragestellungen und Sachverhalten vor allem der Frage, wie das menschliche Denken – letztlich evolutionsbedingt – Entscheidungen trifft, die von rein mathematischen oder logischen Modellen abweichen. Das von ihm mitentwickelte und entscheidend propagierte Modell der „zwei Systeme“ ist für das Verständnis von menschlichen Denkgewohnheiten und Entscheidungstendenzen von epochaler Bedeutung. Kahneman gelang es, die wesentlichen Handlungseigenschaften der beiden Systeme so konkret zu fassen, dass sie zur Erklärung menschlicher Entscheidungen sogar mit mathematischen bzw. statistischen Funktionen beschrieben werden können. Damit ist er einer der Väter der sogenannten Verhaltensökonomik (vgl. Beck, Behavioral Economics, S. 25f.; Beispiel zur Beschreibung der sog. Endowment-Funktion S. 174).
Diese modellhafte Arbeitsstruktur unseres Denkens lässt sich wie folgt kurz beschreiben:
System 1ist das unbewusstarbeitende, kognitive System, das laufend alle Eindrücke unserer Sinnesorgane „bemustert“, bewertet und vergleicht und in das vorhandene ungeheuer vielfältige Netzwerk unserer inneren neuronalen Verdrahtungen bei Bedarf integriert (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 64, S. 69ff.). Daniel Kahneman (S. 33f.) weist System 1 die permanente „Generierung von Eindrücken, Intuitionen, Absichten und Gefühlen“ zu. Jeder von uns hat dieses Leben und Handeln in einem fast „automatischen“ Zustand erlebt: ob beim Autofahren, der Morgentoilette oder Situationen, in denen etwa im Beruf Entscheidungen und Handlungen wie von selbst erfolgen – ein Zustand, der von einigen Wissenschaftlern auch als „Flow“ beschrieben wird. Dieses Verhalten geht in der Regel auf die jahrzehntelangen Routinen zurück, die ein Mensch sich permanent aneignet, wieder aufruft, Schritt für Schritt erweitert – mit anderen Worten bewusst, aber noch viel häufiger unbewusst lernt.
Auch das Erlernen der Muttersprache ist eine der größten Leistungen des kindlichen Gehirns, die überwiegend unbewusst über beobachtendes Hören, spielerisches Üben hin zum Erwerb und der Anwendung erster Wörter bis zu ersten Sätzen erfolgt. (Eingehend zum Prozess des Sprachbegreifens auch Wehling, S. 20ff., Eagleman, S. 100ff.; zum allgemeinen Forschungsstand Viciano, „Der Baby-Code“, SZ vom 13.10.2017, S. 14.) Die dabei gemessenen internen Verarbeitungsgeschwindigkeiten sind ungeheuer schnell und laufen im Bereich von einigen 100 Millisekunden ab (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 77f., Eagleman, S. 87ff.).
Mit anderen Worten: Auch der Prozess des Sprechens von der Wortfindung bis hin zur Satzbildung läuft überwiegend unbewusst ab. Die Sprachbildung im Gehirn folgt einem unbewussten Regelmuster, das bei einem Redner jahrzehntelang eingeübt ist. Infolge dieser jahrelangen Übung sind die Ergebnisse der Spracherzeugung zwar in der Regel durchaus verständlich. Man sollte sich aber davor hüten, nur noch „automatisch, unbewusst“ zu sprechen. Die unbewussten Fehlleistungen, die daraus resultieren, sind legendär. Seit Sigmund Freud sie in seinem berühmten Werk zur Psychopathologie des Alltagslebens analysiert hat, wissen wir zunehmend, welche Macht der unbewussten Gedanken selbst in einem unbedeutenden Versprecher zum Ausdruck kommen kann. Wehe also, Sie würden als Redner unkontrolliert unbewusst sprechen. Selbst der Volksmund kennt die Maxime: Unbewusstes Sprechen ist zu vermeiden – System 2 ist einzuschalten. Mit anderen Worten: Reden ist Silber – Schweigen (und Bedenken) ist Gold.
System 2ist das bewusstarbeitende kognitive System, das letztlich für Konzentration und Aufmerksamkeit steht. Es ist notwendig, um sich bewusst auf die Gedankenführung und die Argumentation eines Redners zu konzentrieren und sie zu analysieren; das System ist aktiviert, wenn rhetorische Fragen gestellt werden und wir der Tendenz folgen, sie zu richtig zu beantworten. Das bewusste System 2 wird zum Beispiel bei uns als Zuhörern aktiviert, wenn uns etwas Unangenehmes oder Unnormales am Redner auffällt und wir uns plötzlich darauf konzentrieren, weil es uns tatsächlich in den Bann zieht.
Wer je den Sketch des Kabarettisten Loriot mit der Nudel in seinem Gesicht sah oder eine/-n Redner/-in vor sich hat, dessen Hosentüre geöffnet oder deren Make-up sichtbar verlaufen ist – der weiß, wie intensiv die Konzentration auf solche Details unsere Aufmerksamkeit fesselt und alles andere vergessen lässt. Dies gilt etwa auch für die beliebte Aufforderung: „Denken Sie jetzt nichtan einen weißen Elefanten!“ In diesem Moment kann der Redner weiter sprechen, was er will – Sie sind bzw. Ihr System 2 ist „gebannt“, der Rest wird von System 1 so erledigt, dass Sie sonst nichts mehr merken (hören, Umgebung beachten etc.): Sie denken an den weißen Elefanten!
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