Fast zeitgleich wurde die größere „Waterframe“-Spinnmaschine von Richard Arkwright (1732 – 1792) konzipiert. Diese war in der Lage, Baumwolle so zu ziehen, dass sie reißfester wurde und stabile Kettfäden daraus gesponnen werden konnten. Arkwright, der zuvor viele Jahre als Perückenhersteller gearbeitet hatte, bevor diese außer Mode gerieten, gilt außerdem als einer der Väter des modernen Fabrikwesens, da er seit den 1770er Jahren eine Reihe größerer Spinnereien errichtete, in denen möglichst viele seiner Maschinen aufgestellt wurden. Die dort beschäftigten Arbeiter mussten sich einer strikten Fabrikordnung unterwerfen, die auf größtmögliche Produktivität ausgerichtet war und wurden von Arkwright häufig in gleich nebenan errichteten Wohnhäusern untergebracht. Um 1790 existierten etwa 150 große Industriespinnereien in ganz Großbritannien.
Schließlich muss eine dritte Erfindung betrachtet werden. 1779 brachte Samuel Crompton (1753 – 1827) die Spinning Mule (Maultier) genannte Spinnmaschine auf den Markt, die Elemente der „Jenny“ und des „Waterframe“ kombinierte und in der Lage war, hochfeine Baumwollfäden herzustellen. Diese bis zu eintausend Spindeln tragende Konstruktion konnte nur von einem hochqualifizierten Facharbeiter bedient werden. Die „Mule Spinner“ wurden gut bezahlt und bildeten eine „Arbeiteraristokratie“ in der frühen Industrialisierung. Diese Technologie ermöglichte die Fertigung von Fäden, die es mit der Qualität der Produkte aus dem indischen Bengalen aufnehmen konnten. Dort lag bis dahin das nur schwach mechanisierte, aber durch extrem niedrige Löhne konkurrenzlos preiswert arbeitende Zentrum der weltweiten Baumwollstoffproduktion.
Seit dem späten 18. Jahrhundert sorgten diese Innovationen in der Spinntechnologie für die rapide Industrialisierung der Textilherstellung
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in Großbritannien. Andere Länder, darunter das im Textilsektor traditionell starke Frankreich, mechanisierten ihre Produktion wesentlich später, was den Briten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein einen uneinholbaren technischen Vorsprung verschaffte. Einerseits war es teilweise schwierig, britische Patente zu erhalten, aber viel wichtiger war, dass sich in Frankreich – noch mehr aber in Indien – die Anschaffungskosten für die Einführung komplexer Maschinen angesichts niedriger Arbeitslöhne lange nicht rentierten. In Großbritannien dagegen machten die hohen Lohnkosten Investitionen in aufwändige Technologie früh rentabel. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch in Großbritannien Stoffe bis in die 1820er Jahre fast immer auf Handwebstühlen hergestellt wurden. Diese nur teilmechanisierte, wenig Investitionskapital erfordernde, aber viele Arbeitsplätze schaffende Fertigung wurde erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durch mit Dampfenergie betriebene Webstühle vollständig industrialisiert.
Die Textilindustrie war, vor allem in Nordengland, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die treibende Kraft hinter der Industrialisierung. In den britischen Industriegebieten hergestellte Textilien dominierten den Weltmarkt. Britische Patente für Maschinen in der Textilherstellung gelangten erst mit deutlicher Verzögerung auf den europäischen Kontinent und in andere Gegenden der Welt, was auch dazu beitrug, die Vormachtstellung der Briten auf diesem Sektor auszubauen. Die Textilindustrie benötigte neben einigen sehr gut qualifizierten viele ungelernte Arbeitskräfte und prägte ganze Städte und Regionen. Vor allem in Lancashire, aber auch in Cheshire und der Gegend um Glasgow, wuchsen zahlreiche mill towns aus dem Boden, die ausschließlich von der Textilherstellung lebten. Manchester wurde das Zentrum des Textilhandels.
2.3
Kapital und Absatzmarkt
Technische Innovationen und der Bau von Fabriken benötigten Kapital. Zwei Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass in Großbritannien genug davon vorhanden war, um eine frühe Industrialisierung zu gewährleisten. Zum einen hatten die Briten früh eine führende Rolle
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im internationalen Handel eingenommen, was Kapital voraussetzte, aber auch generierte. Wer im Handel ein Vermögen gemacht hatte, konnte sein Geld auch anderweitig anlegen, zum Beispiel in produktiv bewirtschaftetem Farmland, in Grund, der reich an Bodenschätzen war, oder in der Finanzierung von Industriebetrieben. Zum anderen hatte sich in Großbritannien – speziell in der City of London – seit dem späteren 18. Jahrhundert ein gut funktionierendes Bankwesen herausgebildet, das Kapital leihen und verschieben konnte. Britische merchant banker – Händler, die große Vermögen erwirtschaftet hatten – handelten zwar immer noch mit Gütern, betätigten sich aber zunehmend im Kredit-, Wechsel- und Anleihegeschäft. Einige spezialisierten sich bereits früh auf die Industriefinanzierung. Während in vielen kontinentaleuropäischen Ländern strikte Bankgesetze die Gründung von Aktienbanken erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten, konnten solche das Risiko auf viele Schultern verteilende Institution in England bereits seit 1826 entstehen, was später wichtig für immer kapitalintensivere industrielle Großprojekte wurde. In der frühen Industrialisierung war jedoch weniger das Vorhandensein von Kapital unabdingbar als vielmehr die Möglichkeit, Rohstoffe, Maschinen und produzierte Güter zuverlässig bezahlen und verkaufen zu können, was das gut ausgebaute britische Bankenwesen ermöglichte. Der Charakter der Industrialisierung in dieser Phase, in der eher kleine Fabriken entstanden, die sich nur selten rapide vergrößerten, sorgte zunächst für einen recht überschaubaren Kapitalbedarf. Viele der industriellen Pioniere in Großbritannien liehen sich ihr Startkapital im Verwandtenkreis und vergrößerten ihre Fabriken stückweise durch die Reinvestition von Gewinnen.
Großbritannien hatte sich im 18. und 19. Jahrhundert ein gewaltiges überseeisches Imperium aufgebaut, welches ebenfalls als, teilweise exklusiver, Markt für den Absatz britischer Güter und Waren diente. Auch mit verschiedenen europäischen Ländern stieg der britische Außenhandel seit den 1760er Jahren stark an. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dies die entscheidenden Gründe dafür waren, dass Produkte aus britischer industrieller Fertigung viele Käufer fanden. Vielmehr war es der britische Binnenmarkt, der seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich größer und kaufkräftiger wurde, weil die wachsende und durch Handel
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und Industrialisierung wohlhabender werdende Bevölkerung immer mehr Waren nachfragte. Der heimische Markt nahm während der Hochindustrialisierung über zwei Drittel aller im Land produzierten Güter und Waren auf. Schon im späten 18. Jahrhundert waren die Grundbedürfnisse nicht nur einer kleinen Oberschicht weitgehend gedeckt, was dazu führte, dass mehr und mehr Menschen über das Lebensnotwendige hinaus konsumierten. Wenige Jahrzehnte zuvor noch adligen Landbesitzern und einigen sehr vermögenden Händlern vorbehaltene Luxusgüter wandelten sich zu Dingen des alltäglichen Bedarfs, zunächst für die immer breiter werdende, durch Unternehmer und Fabrikanten bestimmte obere Mittelklasse, im 19. Jahrhundert auch für Facharbeiter, Handwerker, Einzelhändler und später die wachsende Zahl von Angestellten. Die Nachfrage nach gewerblichen Produkten durch einen stetig wachsenden Binnenmarkt trieb die Industrialisierung des Landes maßgeblich voran.
2.4
Transportwesen
Auch der stärkste Binnenmarkt und die günstigsten Rohstoffvorkommen hätten nicht zu einer frühen britischen Industrialisierung geführt, wenn Investitions- und Gebrauchsgüter nicht durch eine leistungsfähige Transportinfrastruktur bewegt worden wären. Die Entwicklung des Transportwesens bestimmte den Verlauf der Industriellen Revolution maßgeblich mit und wurde gleichzeitig von ihr vorangetrieben. Bis zum frühen 18. Jahrhundert waren die einzelnen Gemeinden für den Bau und die Erhaltung von Straßen zuständig. Um Handel und Wirtschaft auf regionaler Ebene gezielt zu fördern, wurden 1707 per Gesetz die ersten turnpike trusts geschaffen, die mit dem Aufbau eines zunächst noch sehr lückenhaften, zusätzlichen Netzes von gebührenpflichtigen, durch Mautstationen mit Schlagbäumen (turnpikes) gesicherten Straßen begannen. Meist kontrolliert durch lokale Honoratioren, waren die Trusts verpflichtet, die eingenommenen Gebühren in die Erhaltung der Straßen zu investieren. Um 1750 existierten rund 150 verschiedene Trusts, die typischerweise nur eine Straße von einigen Dutzend Kilometern Länge pflegten. Mit der Frühindustrialisierung kam es zu einer
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