Auf der Basis von fMRT-Untersuchungen wurden mehrere Hirnareale identifiziert, die während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktiviert sind und die auch als ToM-Netzwerk bezeichnet werden (Frith / Frith 2006; Saxe / Kanwisher 2003). Dazu gehören (siehe Abbildung 2)
■ die temporo-parietale Junktion (TPJ),
■ der mediale präfrontale Kortex (mPFC),
■ der Precuneus (PRE),
■ der posteriore cinguläre Kortex (PCC),
■ der posteriore superiore temporale Sulkus (pSTS) und
■ die temporalen Pole (TP).
■ Manche Untersuchungen zählen außerdem den anterioren superioren temporalen Sulkus (aSTS) und die Amygdala hinzu.
Abb. 2: Schematische Darstellung der Hirnareale, die bei der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktiviert sind (linke Hemisphäre): medialer präfrontaler Kortex (mPFC), Precuneus (PRE) / posteriorer cingulärer Kortex (PCC), superiorer temporaler Sulkus (STS), temporo-parietale Junktion (TPJ) und temporale Pole (TP)
Merksatz
Während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktivierte Hirnregionen sind die temporo-parietale Junktion (TPJ), Teile des superioren temporalen Sulkus (STS), die temporalen Pole (TP) und mediale Regionen wie der mediale präfrontale Kortex (mPFC), der Precuneus (PRE) und der posteriore cinguläre Kortex (PCC).
Die Vielzahl der beteiligten Areale lässt bereits vermuten, dass ToM keine einfache und eng umschriebene Funktion ist wie beispielsweise das Bewegungssehen, sondern dass es sich vielmehr um einen komplexen kognitiven Vorgang handelt, der verschiedene Teilprozesse beinhaltet. Besonders interessant werden die neurowissenschaftlichen Befunde also vor allem dann, wenn sie dabei helfen aufzuklären, welche spezifischen Prozesse am Mentalisieren beteiligt sind.
Teilprozesse von ToM
Die Erforschung der geistigen Vorgänge, die ToM zugrunde liegen, ist in vollem Gange und es werden in der Literatur einige Prozesse und Fertigkeiten diskutiert, die zum Tragen kommen, wenn wir versuchen, uns in Andere hineinzuversetzen.
Self / other distinction: Ausschlaggebend dafür, andere Menschen verstehen zu können, ist das Wissen um die Trennung zwischen Selbst und Anderen bzw. der Prozess des Auseinanderhaltens eigener und fremder Zustände: die sogenannte self / other distinction. Wenn wir einen Freund nach einer Prüfung, die wir selbst noch ablegen müssen, weinen sehen, haben wir sowohl eine mentale Repräsentation der Erfahrung unseres Freundes (nämlich „traurig“ und „Prüfung abgelegt“) als auch, zeitgleich, eine mentale Repräsentation unseres eigenen Zustandes (nämlich „nervös wegen bevorstehender Prüfung“). Diese beiden Repräsentationen müssen wir auseinanderhalten – nur so gelingt es uns, mentale Zustände bei Anderen anzunehmen und nachzuvollziehen, die wir (momentan) nicht teilen. Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass die TPJ eine für diesen Prozess relevante Hirnregion ist (Steinbeis 2016).
Beurteilung psychologischer und sozialer Eigenschaften: Das Erschließen und Erkennen mentaler Zustände basiert auch darauf, dass wir anderen Menschen stabile Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Die Repräsentationen dieser emotional und sozial bedeutsamen inneren, von der sichtbaren Welt entkoppelten Eigenschaften beruhen auf unserer Lebenserfahrung, also auf unserem autobiografischen Gedächtnis, und scheinen mit einer besonderen Aktivierung des mPFC einherzugehen (Schurz et al. 2014).
Mental imagery: Sich in Personen hineinzuversetzen, deren Situationen und Perspektiven sich von den unseren unterscheiden, bedarf einer gewissen kognitiven Flexibilität und Vorstellungskraft. Der als mental imagery bezeichnete Prozess des Sich-Vorstellens bestimmter, der direkten Wahrnehmung nicht zugänglicher Zustände wird von neurowissenschaftlichen Studien mit dem Precuneus in Zusammenhang gebracht (Schurz et al. 2014).
Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen (gaze, biological motion and agency): Wenn wir zu erschließen versuchen, was Personen denken, wollen oder planen, nutzen wir dafür bestimmte soziale Informationen, z. B. deren Blickrichtung, deren Bewegungsmuster und deren Handlungen. Wohin jemand schaut kann Aufschluss darüber geben, was sie interessiert, was sie tun oder haben möchte. An der Art der Bewegungsabläufe erkennen wir, ob jemand gerade vorsichtig oder selbstsicher ist, traurig oder fröhlich, zielgerichtet oder unentschlossen. Und von den Handlungen eines Menschen schließen wir auf dessen Absichten und Pläne. Auf die effektive und zuverlässige Verarbeitung dieser sozialen Reize ist unser Gehirn hochspezialisiert. Vor allem die temporalen Hirnregionen wie der STS scheinen dabei eine wichtige Rolle zu spielen (Frith / Frith 2003).
Kontextuelle Einbettung: Um menschliches Verhalten richtig deuten zu können, gilt es, den Kontext, in dem es stattfindet, zu beachten. Wir brauchen also Kenntnisse darüber, wie man sich typischerweise in den verschiedensten (sozialen) Situationen verhält. Das semantische Wissen über diese sogenannten sozialen Skripte basiert auf unseren eigenen Erfahrungen in der sozialen Welt. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass die temporalen Pole beim Abrufen sozialer Skripte und bei der kontextuellen Einbettung von beobachtetem Verhalten beteiligt sind (Frith / Frith 2003).
Merksatz
An ToM beteiligte kognitive Prozesse sind u. a. das Auseinanderhalten eigener und fremder Zustände (self / other distinction), die Repräsentation nicht direkt beobachtbarer persönlicher Eigenschaften, mental imagery, die Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen und das Abrufen unseres semantischen Wissens über soziale Skripte.
Natürlich hängen die spezifischen kognitiven Prozesse, die am Verstehen der mentalen Zustände anderer Personen beteiligt sind, von der konkreten Situation und deren jeweiligen Anforderungen ab. Je nach Gegebenheit müssen nicht notwendigerweise all diese Prozesse ablaufen, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen. Entsprechend zeigen empirische Studien unterschiedliche Muster neuronaler Aktivierung und kognitiver Teilprozesse, je nachdem, welche Aufgabe zur Erfassung von ToM genutzt wird (Frith / Frith 2003; Schurz et al. 2014) (siehe auch Kapitel 2).
Interindividuelle Unterschiede und Stabilität
In späteren Kapiteln soll aufgezeigt werden, dass die Fähigkeit, mentale Zustände anderer Menschen zu erfassen, über die Lebensspanne hinweg variiert ( Kapitel 3) und in verschiedenen Psychopathologien vermindert sein kann ( Kapitel 4). Doch unterscheiden sich auch gesunde Erwachsene systematisch in ihrer Fähigkeit und / oder Motivation, zu mentalisieren? Diese Frage ist eng verbunden mit der Erforschung der Stabilität von ToM. Hat jemand tatsächlich eine Begabung für ToM, sollte sich diese immer wieder und bei verschiedenen Gelegenheiten zeigen.
Während unsere Alltagserfahrung nahelegt, dass Menschen unterschiedlich motiviert, bereit oder in der Lage sind, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen, ist diese Frage empirisch nicht so einfach zu beantworten. Die meisten Aufgaben zur Erfassung von ToM (siehe Kapitel 2) sind für gesunde Erwachsene relativ einfach zu lösen. Für die zuverlässige Untersuchung der Fähigkeit zu ToM braucht man jedoch Aufgaben, die schwierig genug sind, um eventuell bestehende Unterschiede zwischen Personen aufzeigen zu können. Die Erforschung der Stabilität der ToM-Tendenz erfordert zudem Messinstrumente, die man bei denselben Personen wiederholt anwenden kann, ohne dass sich Lerneffekte zeigen. Dennoch geben erste Untersuchungen Hinweise darauf, dass sich die Tendenz, schwierige ToM-Aufgaben zu lösen, tatsächlich zwischen gesunden Erwachsenen unterscheidet und dass dieser Unterschied über die Zeit hinweg stabil ist (z. B. Kanske et al. under review; für Stabilität von ToM im Säuglings- und Kleinkindalter siehe Aschersleben et al. 2008).
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