Um die Gültigkeit der hier beschriebenen Erkenntnisse für beide Geschlechter zu betonen, werden die männliche und weibliche Form im Wechsel verwendet.
Hauptteil
Was ist Theory of Mind?
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Theory of Mind, das Nachdenken über die mentalen Zustände unserer Mitmenschen, ist ein zentraler Aspekt sozialen Erlebens und Handelns. Das folgende Kapitel zeichnet die Entwicklung des Theory of Mind-Begriffs in der empirischen Forschung nach und grenzt ihn von verwandten sozialen Funktionen wie Empathie, Mitgefühl, räumlicher Perspektivübernahme und Metakognition ab. Der aktuelle Forschungsstand zu den neuronalen Grundlagen und den an Theory of Mind beteiligten kognitiven Prozesse wird zusammengefasst. Abschließend soll ein Überblick über persönliche und situative Faktoren gegeben werden, die mit der individuellen Motivation und / oder Fähigkeit zu Theory of Mind in Zusammenhang stehen.
Lebewesen zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, mit ihrer Umwelt zu interagieren. Die Umwelt von uns Menschen besteht nun maßgeblich aus anderen Menschen; Gelegenheiten – und die Notwendigkeit – zu sozialer Interaktion sind also allgegenwärtig. Wenn wir mit Anderen kommunizieren und kooperieren, sei es beim gemeinsamen Tragen eines Sofas während unseres Umzugs oder beim Planen eines Urlaubs, spielen nicht nur unsere eigenen Gedanken, Absichten und Überzeugungen eine Rolle, sondern auch die des Anderen. Weiß meine Bekannte, dass ich das Sofa kippen will, bevor wir das enge Treppenhaus betreten? Bedenke ich, dass mein Partner wegen seines Heuschnupfens lieber im Herbst verreisen möchte? Was vermutet meine Mutter, dass ich über ihre Meinung zu meiner Berufswahl weiß?
Der Versuch, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über diese nachzudenken, wird als Theory of Mind (ToM) bezeichnet. Um die verschiedenen Facetten dieses Begriffes besser verstehen zu können, werden im Folgenden die Hintergründe der psychologischen Forschung zu ToM aufgezeigt.
Hintergrund und Definition
Die empirische Forschung zu ToM hat ihren Ursprung in der Frage, welche Lebewesen sich selbst und Anderen überhaupt mentale Zustände zuschreiben. In diesem Zusammenhang bezeichnet ToM das Verständnis, dass Individuen geistige Zustände haben, z. B. Überzeugungen und Absichten, die zum einen ursächlich für ihr Verhalten sind und die sich zum anderen zwischen Individuen unterscheiden können. Eine Person hat also eine ToM, wenn sie versteht, dass der Student, der die Dozentin im Büro vermutet, und die Studentin, die die Dozentin in der Kantine vermutet, jeweils an unterschiedlichen Orten nach ihr Ausschau halten werden (unabhängig davon, wo sie sich tatsächlich aufhält). Die ersten Untersuchungen zielten darauf ab, herauszufinden, wer dieses Verständnis, also eine ToM, besitzt. Premack und Woodruff (1978) erforschten beispielsweise, ob Schimpansen bei Menschen mentale Zustände erkennen und deren Verhalten entsprechend vorhersagen können (siehe Studienbeschreibung Premack / Woodruff 1978).
Studie
„Does the chimpanzee have a Theory of Mind?“
(Premack / Woodruff 1978)
In ihrem Artikel „Does the chimpanzee have a Theory of Mind?“ gingen David Premack und Guy Woodruff der Frage nach, ob Schimpansen Menschen Absichten zuschreiben können. Dafür zeigten die Autoren der 14-jährigen und bei Menschen aufgewachsenen Schimpansin Sarah kurze Videosequenzen, in denen Menschen mit verschiedenen Problemen konfrontiert waren, u. a. mit außer Reichweite befindlichen Nahrungsmitteln, mit abgeschlossenen Türen oder mit nicht angeschlossenen elektrischen Geräten. Unmittelbar nach jedem Video legten die Forscher der Schimpansin mehrere Fotos vor, wobei nur eines der Fotos den zur Lösung des Problems notwendigen Gegenstand abbildete. Die Ergebnisse zeigten, dass Sarah überzufällig häufig das jeweils richtige Foto auswählte. Premack und Woodruff schlussfolgerten, dass Schimpansin Sarah den in den Videos abgebildeten Personen Handlungsabsichten zuschrieb und so deren Verhalten entsprechend vorhersagen konnte (Premack / Woodruff 1978).
Ganz ähnlich war auch die Forschung zu ToM bei Kindern zunächst auf die Frage ausgerichtet, ob und in welchem Lebensalter Kinder die Einsicht erlangen, dass andere Personen mentale Zustände haben, die von ihren eigenen mentalen Zuständen abweichen können (Perner / Wimmer 1985). Diese Art der Fragestellung sieht ToM als eine Reihe von Konzepten und Kenntnissen, die man entweder hat oder nicht hat.
Nachdem hier spannende Einsichten gewonnen wurden (siehe auch Kapitel 3und Kapitel 6), hat sich der Fokus wissenschaftlicher Forschung zunehmend auf die Frage gerichtet, wie das Verstehen der mentalen Zustände anderer Individuen eigentlich funktioniert. Welche kognitiven Prozesse laufen ab, während wir erschließen, was Andere denken, wissen, wollen und mögen? Vor diesem Hintergrund wird ToM also weniger als etwas verstanden, das man hat, sondern vielmehr als etwas, das man tut. Die Definition von ToM als der Versuch bzw. der Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen, hat inzwischen relativ breite Akzeptanz gefunden (Apperly 2012). Dieser Ansatz bietet die Grundlage für Untersuchungen von ToM über die komplette Lebensspanne hinweg und erlaubt die präzise Erforschung der neuronalen, kognitiven, situativen und persönlichen Faktoren, die beim Verstehen anderer Menschen eine Rolle spielen.
Definition
Theory of Mind ist der Versuch, zu verstehen, was Andere denken, wissen, glauben, wollen, planen oder mögen. Theory of Mind bezeichnet also den Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über diese nachzudenken.
Gängige synonyme Bezeichnungen für ToM in der wissenschaftlichen Literatur sind Mentalisieren (mentalizing) und kognitive Perspektivübernahme. Umgangssprachlich beschreiben auch die Termini „sich in jemanden / jemandes Lage hineinversetzen“, „jemandes Blickwinkel einnehmen“ oder „sich in jemandes Schuhe stellen“, was wir unter ToM verstehen.
Das Erschließen der mentalen Zustände unserer Mitmenschen ist in vielfältigen sozialen Konstellationen relevant und spielt z. B. eine Rolle für
■ Ironie (Hier müssen wir verstehen, dass eine Person etwas anderes denkt, als sie sagt.)
■ Small Talk (Hier müssen wir verstehen, dass unser Gegenüber nicht die ehrliche, sondern die einfache und / oder unterhaltsame Antwort auf ihre Fragen erwartet.)
■ Taktgefühl (Hier müssen wir verstehen, worüber unser Gesprächspartner lieber nicht sprechen oder was er nicht hören möchte.)
■ Verhandlungen (Hier müssen wir verstehen, zu welchen Kompromissen unsere Verhandlungspartnerinnen bereit sind und mit welchen Zugeständnissen von unserer Seite sie zufrieden wären.)
■ Bluffen (Hier müssen wir im Bewusstsein halten, dass die getäuschte Person etwas glaubt, von dem wir selbst wissen, dass es nicht wahr ist.)
■ das Führen eines Teams (Hier müssen wir u. a. verstehen, wer wodurch motiviert werden kann und wie viel Freiraum bzw. Anleitung die verschiedenen Mitarbeiter benötigen.)
■ das Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen (Hier müssen wir nachvollziehen, was das Verhalten unserer Freundin über ihre Ansichten und Absichten aussagt und welche Auswirkungen unser eigenes Verhalten auf unsere Freundin hat.)
Die Komplexität der ToM-Anforderungen kann natürlich je nach Situation variieren und man spricht häufig von verschiedenen Stufen oder Levels der kognitiven Perspektivübernahme. Die erste Stufe beschreibt dabei das Nachvollziehen eines mentalen Zustandes der Form „A glaubt (oder weiß, will, plant, etc.) x“. Die zweite Stufe hat entsprechend die Form „A glaubt (...), dass B möchte (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“, die dritte Stufe beschreibt „A glaubt (...), dass B möchte (...), dass C denkt (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“ und so fort (siehe Abbildung 1). Im Durchschnitt können Erwachsene derartige Aussagen bis zur vierten Stufe relativ problemlos nachvollziehen (Kindermann et al. 1998).
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