Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik ist das Gewährleisten einer allumfassenden und uneingeschränkten Entwicklung Hörgeschädigter durch hörgeschädigtenspezifische Bildung, Erziehung, Förderung und (Re-)Habilitation.
Rehabilitation meint hier einen interdisziplinär angelegten Prozess, der die Auswirkungen der Hörschädigung auf das Leben der Betroffenen mindern will. Habilitation leitet sich vom Verb habilitare ab und bedeutet jemand befähigen, geschickt oder geeignet machen.
Die Hörgeschädigtenpädagogik will von ihrem Selbstverständnis her nicht nur beschreibend, sondern gegebenenfalls auch gestaltend tätig sein. Damit verfügt sie gleichermaßen über einen allgemeinen wie auch angewandten Wissenschaftszweig.
Forschung und Praxis der Hörgeschädigtenpädagogik akzentuierten in den vergangenen Jahren vor allem den hörgerichteten Spracherwerb und die bilinguale Erziehung, aktuell wenden sie sich eher Fragen der inklusiven Beschulung insbesondere unter den Aspekten der Beschulung lautsprachlich und gebärdenprachlich kommunizierender Schüler zu (Leonhardt 2018a).
Alle sonderpädagogischen Teildisziplinen sind auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, insbesondere aber die Pädagogiken der Sinnesbehinderten (also die Hörgeschädigtenpädagogik und die Sehgeschädigtenpädagogik). Gleichsam werden sie von „außen“ (also von anderen Wissenschaftsdisziplinen oder von allgemeinen bildungspolitischen Bestrebungen) beeinflusst und zu neuen Denkansätzen veranlasst. Beispielhaft seien für die vergangenen Jahre Forschungsergebnisse aus der Linguistik über die Gebärdensprache und Entwicklungen im Rahmen der HNO-Heilkunde im Zusammenhang mit den Cochlea Implantationen genannt. Für die aktuellen Entwicklungen sind vorrangig die bildungspolitischen Bemühungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hervorzuheben.
Weiterführende Literatur zur Theoriebildung der Sonderpädagogik: – Biewer (2017): Grundlagen der Heilpädagogik – Bleidick (1974): Pädagogik der Behinderten – Bleidick (1998): Einführung in die Behindertenpädagogik, Band I. – Bleidick (1999): Behinderung als pädagogische Aufgabe – Dederich et al. (2016): Handlexikon der Behindertenpädagogik – Haeberlin (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. – Hedderich et al. (2016): Handbuch der Inklusion und Sonderpädagogik. – Kobi (2004): Grundfragen der Heilpädagogik. – Moser / Sasse (2008): Theorien der Behindertenpädagogik. – Speck (2008): System Heilpädagogik. – Für einen allgemeinen Überblick über die Sonderpädagogik bietet sich an: Klauer (1992): Grundriß der Sonderpädagogik.
2.4 Übungsaufgaben zu Kapitel 2
Aufgabe 1
Warum sind möglichst exakte Begriffsbestimmungen (z. B. von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit) unumgänglich?
Aufgabe 2
Aus der Sicht der Medizin und aus der Sicht der Pädagogik wird der Begriff „hörgeschädigt“ unterschiedlich bestimmt. Worin besteht der wesentliche Unterschied?
Aufgabe 3
Wann entwickelten sich eigenständige Schwerhörigenschulen? Wonach sollte die Trennung in gehörlose und schwerhörige Schüler erfolgen?
Aufgabe 4
Worin zeigt sich die erweiterte Aufgabenstellung des Förderzentrums, Förderschwerpunkt Hören im Vergleich zur allgemeinen Schule?
Aufgabe 5
Welche Teilgebiete der Sonderpädagogik sind Ihnen außer der Hörgeschädigtenpädagogik bekannt?
Aufgabe 6
Was ist als Hauptziel der Hörgeschädigtenpädagogik anzusehen?
Aufgabe 7
Was ist der Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik?
Aufgabe 8
Erarbeiten Sie sich anhand der Ausführungen in Kapitel 2und durch Zuhilfenahme weiterer Fachliteratur (z. B. Lenzen [2004], Bleidick u. a. [1998], Wisotzki [1994] und Claußen [1995]) folgende Übersicht:
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Allgemeine Pädagogik |
Sonderpädagogik |
Hörgeschädigtenpädagogik |
Begriff (Was ist …?) |
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Aufgabe / Ziel (Wozu braucht man …?; Was beabsichtigt …?) |
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Gegenstand (Womit beschäftigt sich …?) |
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3 Hörschäden im Kindes- und Jugendalter
Die Situation eines Kindes, das von Geburt an hörgeschädigt (gehörlos, hochgradig hörgeschädigt oder schwerhörig) ist, und eines Kindes, das sehr frühzeitig das Gehör verliert, unterscheidet sich grundlegend von den Verhältnissen, die für den im Erwachsenenalter ertaubten oder schwerhörig gewordenen Menschen gelten. In den Kapiteln 1und 4sind die Auswirkungen eines Hörschadens auf die emotional-volitive, geistige, körperliche, soziale und sprachliche Entwicklung dieser Kinder beschrieben. Die frühestmögliche Erkennung eines Hörschadens ist unter diesen Gesichtspunkten eine bedeutungsvolle Aufgabe. Deshalb hat der Gesetzgeber die Grundlagen dafür geschaffen, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung ein umfangreiches und an den einzelnen Entwicklungsphasen des Kindes orientiertes Früherkennungsprogramm angeboten wird. Dieses für Säuglinge und Kleinkinder geschaffene Programm umfasst zehn ärztliche Untersuchungen in der Zeit von der Geburt bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres zu festgelegten Terminen. Das Früherkennungsprogramm enthält auch Maßnahmen zur Früherkennung von Hörschäden. Die Untersuchungen sollen nach den Vorgaben der „Kinder-Richtlinien“ von denjenigen Ärzten vorgenommen werden, „welche die vorgesehenen Leistungen auf Grund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen erbringen können, nach der ärztlichen Berufsordnung dazu berechtigt sind und über die erforderlichen Einrichtungen verfügen“ (Kinder-Richtlinie 2017, 6).
3.1 Anatomische und physiologische Vorbemerkungen
Anatomie des Ohres
Das, was gewöhnlich als Ohr bezeichnet wird, ist das statoakustische Sinnesorgan (gr. Statikos = auf das Gleichgewicht bezogen; gr. akoustikos = das Gehör betreffend). Wie der Name es bereits ausdrückt, sind hier zwei Sinnesorgane (Hörorgan, Gleichgewichtsorgan) auf engem Raum kombiniert. Sie haben verschiedene Funktionen.
Am Ohr werden drei Abschnitte unterschieden ( Abb. 3): äußeres Ohr, Mittelohr und Innenohr.
Abb. 3: Aufbau des Ohres (aus: FORUM BESSER HÖREN: moderne HÖRSysteme, 14)
Das äußere Ohr (Auris externa)Zum äußeren Ohr werden Ohrmuschel und Gehörgang gezählt. Die Ohrmuschel besitzt mit Ausnahme des Ohrläppchens ein Gerüst aus elastischem Knorpel. Sie hat die Form eines Schalltrichters, der sich zum äußeren Gehörgang immer mehr verjüngt, d. h., der Anfangsteil des äußeren Gehörganges wird von einer rinnenförmigen Fortsetzung des Ohrmuschelknorpels gebildet, die durch das Bindegewebe zu einem geschlossenen Gang ergänzt wird ( Abb. 4). Den Abschluss bildet das schräg in den Gehörgang eingelassene Trommelfell. Das Trommelfell ist eine häutige Membran mit einem Durchmesser von 9 – 11 mm. Es ist normalerweise so zart, dass die Gebilde des Mittelohres hindurchschimmern ( Abb. 5).
Abb. 4: Längsschnitt des äußeren Gehörganges
Abb. 5: Ein rechtes Trommelfell
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