Sprachwissen und Sprachkompetenz eines Mehrsprachigen [bestehen] nicht aus getrennten oder trennbaren Subsystemen (L1, L2, L3 usw.), sondern bilden ein holistisches dynamisches System, in dem jede Veränderung Auswirkungen auf alle Subsysteme hat.
(Riehl 2014:15)
Aktuelle neurolinguistische Studien zur mehrsprachigen Entwicklung bestätigen und übertreffen sogar die bekannte Interdependenzhypothese, „showing that even when one language is being used, the other language remains active and can be easily accessed“ (García/Li Wei 2014:14).
Mit dem theoretischen Konzept „translanguaging“ ist diese Komplexität beim Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen jenseits von einsprachigen Normen zu beschreiben. Bereits mehrsprachige Kinder verfügen über ein Sprachenrepertoire, „one linguistic repertoire from which they select features strategically to communicate effectively“ (García 2011a:1). Ähnlich haben Jørgensen, Karrebæk, Madsen und Møller die Bezeichnung „polylingual languaging“ in die Fachdiskussion eingeführt, um die Kommunikationspraxis von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen im Kontext von durch (sprachliche) Diversität geprägten Migrationsgesellschaften zu beschreiben (vgl. Jørgensen, Karrebæk, Madsen, Møller 2011).
Indem Mehrsprachige situativ passend, flexibel, mehr- und quersprachig bzw. translingual handelnd lernen, lernen sie auch in mehrsprachigen Situationen angemessen zu kommunizieren (vgl. García/Li Wei 2014:22). Translanguaging legt den Fokus auf die Praxis des sprachenübergreifenden ‚languaging‘, auf die individuelle und originelle Sprachverwendungspraxis der Sprecherinnen und Sprecher: „the speaker’s complete language repertoire“ (vgl. ebd.:109f.). Die Beschreibung von Sprachlichkeitoder Sprachigkeitsetzt die Betrachtung von Sprache als soziale Praxis(und nicht nur als System) voraus:
Translanguaging takes the position that language is action and practice, and not a simple system of structures and discreet sets of skills. That’s why translanguaging uses an -ing form, emphasizing the action and practice of languaging bilingually .
(García 2011a:1; Hervorhebung d. Panagiotopoulou)
Canagarajah hat den Begriff „translingual practice“ eingeführt, um die dynamischen und fließenden „language practices in multilingual encounters“ zu konzeptualisieren (Canagarajah 2013:8, zit. nach García/Li Wei 2014:40). Es geht um den Versuch, die komplexe translinguale Praxis von mehrsprachigen Individuen in mehrsprachigen Kontexten als Realität anzuerkennen. Insbesondere für Kindertageseinrichtungen, wo junge Kinder gerade dabei sind ihre Sprache(n) zu erwerben, ist diese Betrachtungsweise besonders treffend und hilfreich, wenn es darum geht, ihre konkreten familialen Sozialisationsbedingungen zu berücksichtigen, ohne sie pauschal zu problematisieren.
Die Fähigkeit mehrsprachiger Kinder, ihre „gesamten sprachlichen Ressourcen nutzen zu können“, wird „als Multicompetencebezeichnet“ (Riehl 2014:15; siehe dazu auch Kapitel 1). In der Praxis zeichnet sich diese Fähigkeit dadurch aus, dass Kinder den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend ein- aber auch mehr- und quersprachig handeln . Von dieser heteroglossischen Realität und Praxisausgehend ist eine alltagsintegrierte und inklusive Sprachbildungin frühpädagogischen Feldern zu gestalten.
2.3 Auf dem Weg zu einer Didaktik der Mehr- und Quersprachigkeit
Mit dem Titel „Mehrsprachigkeit institutionell sichtbar machen“ vertreten Chilla und Niebuhr-Siebert (2017:98) einen inklusiven und zugleich alltagsintegrierten Ansatz mehrsprachlicher Bildung, den sie wie folgt begründen:
Mehrsprachige Bildung lebt von den Möglichkeiten, die eine Einrichtung zur Entwicklung aller Sprachen eines Kindes bietet. Mit anderen Worten: So lange mehrsprachige Kommunikation unsichtbar bleibt, kann Mehrsprachigkeit nicht als Bildungsressource genutzt werden.
(Chilla/Niebuhr-Siebert 2017:98f)
Insbesondere in der frühen Kindheit und im Vorschulalter kann die „Förderung von Mehrsprachigkeit (…) nicht als Förderung additiver systematischer Kenntnisse verstanden werden“ (List 2007:10). Es geht vielmehr darum, ein „Handeln quer durch die in der Institution vorgefundenen Sprachen hindurch“ zu fördern. Mit der Inklusion aller mitgebrachten Sprachen bzw. unter Berücksichtigung der komplexen Sprachwelten der Kinder wären auch konkrete Ziele zu erreichen wie zum Beispiel:
Symbolische Dienste unterschiedlicher Sprachen und Register erkennen, zwischen ihnen unterscheiden, sie womöglich selbst mischen oder wechselnd benutzen, sie zum Objekt des Nachdenkens über die Vielgestaltigkeit der Sprachwelten machen.
(List 2007:10)
In einer früheren Publikation von Mario Wandruszka aus dem Jahre 1979, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Literatur wiederholt zitiert und explizit gewürdigt wird (vgl. z.B. Fürstenau/Gomolla 2011:22; Fürstenau 2011:29f.), wird ebenfalls für eine Inklusion aller Sprachen und Sprachvarietäten plädiert. Auch hier wird die gelebte Mehrsprachigkeit der Heranwachsenden als Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen und Handlungen betrachtet: Die pädagogischen Fachkräfte sind als „Erzieher[innen] zur Mehrsprachigkeit“ zu verstehen (Wandruszka 1979:18), die zunächst alle „von den Kindern mitgebrachten Sprachen, Dialekte, Regiolekte und Soziolekte in ihrem Eigenwert erkennen und anerkennen“ und erst davon ausgehend die Kinder in die Sprache der Schule bzw. in die sogenannte „Bildungssprache einführen“ (ebd.:14f.).
Im deutschsprachigen Raum wird in den letzten Jahren versucht, den herkömmlichen Grammatikunterricht der Schule durch deskriptiv-analytische Sprachreflexionen zu erweitern oder zumindest die vorrangig normativen Ansätze der Deutschdidaktik auch für nicht standardsprachliche Varietäten der deutschen Sprache zu öffnen (vgl. Reich/Krumm 2013:84). Seit den 1990er-Jahren gibt es darüber hinaus verschiedene mehrsprachigkeitsdidaktisch ausgerichtete Ansätze (von Hans Reich, Ingelore Oomen-Welke, Basil Schader u.a.). Diese konzeptionellen Überlegungen greifen auf gemeinsam geteilte Maximen zurück, die auch für den Elementarbereich relevant sein können. Es wird davon ausgegangen,
dass Kinder ihr gesamtes Sprachenrepertoire benötigen, um (sprachlich) zu lernen. Daher sollen alle Kinder auch in pädagogischen Feldern die Möglichkeit erhalten, ihre vielfältigen sprachlichen Kompetenzen und Praktiken selbstständig zu implementieren, insbesondere wenn sie damit beginnen, eine weitere, für sie mehr oder weniger neue Sprache oder Sprachvarietät (z.B. ein auf Schriftlichkeit basierendes Register) zu erwerben (siehe Kapitel 2.2 und Kapitel 3),
dass im pädagogischen Kontext alle (Familien-)Sprachen – unabhängig von ihrem sozialen Prestige und offiziellen Status – als gleichwertig anerkannt werden sollen, da sie auch mit der Identitätsbildung der Kinder zusammenhängen. Aus diesem Grund dürfen sie gerade im Kontext von Bildungseinrichtungen nicht ausgeblendet oder sogar marginalisiert werden.
Diese konzeptionelle Wende zur Mehrsprachigkeit wird im englischsprachigen Raum als „ multilingual turn“ (Conteh/Meier 2014) bezeichnet und ist allmählich auch im deutschsprachigen Raum beobachtbar: In Österreich wurden entsprechende Prinzipien und Ziele einer „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (Reich/Krumm 2013) und in der Schweiz konzeptionelle Überlegungen zur Förderung von „Mehrsprachigkeitskompetenz“ (Berthele 2010) formuliert. In Deutschland wurde bereits vor einigen Jahren eine interkulturelle mehrsprachige Deutschdidaktikfür die Schule konzipiert (vgl. Oomen-Welke 2003) und für eine „Didaktik der Quersprachigkeit“ in Kindertageseinrichtungen (List 2004) plädiert. Die sogenannten „dynamic plurilingual pedagogies“ (García/Flores 2012:244), worunter auch das Konzept „translanguaging pedagogy“ (García 2009a; García/Li Wei 2014) einzuordnen ist, sind konzeptionell vergleichbare Ansätze. Auch sie zielen allerdings hauptsächlich auf eine Neuorientierung des schulischen Unterrichts und beziehen sich seltener auch auf die frühpädagogische Praxis. Aus einer sprachdidaktischen Perspektive lässt sich hier die kritische These aufstellen, dass paradoxerweise insbesondere jüngere Kinder nicht dort abgeholt werden, wo sie gerade stehen, nämlich mitten im dynamischen Mehrspracherwerb, der ohnehin translingual verläuft (siehe Kapitel 2.2). Und so dominieren in der frühpädagogischen Praxis additive und sprachtrennende Vorgehensweisen, obwohl neuere Ergebnisse psycholinguistischer Erwerbsforschung belegen, wie Hopp, Thoma und Tracy (2010:611) zusammenfassend feststellen, dass im frühen Kindesalter „implizite Sprachlernprozesse“ verfügbar sind, die „möglicherweise sogar auf für Sprache spezialisierte Lernmechanismen aufbauen“ und einen zügigen und erfolgreichen Spracherwerb von weiteren Zielsprache(n) innerhalb von wenigen Jahren gewährleisten. Nicht die üblichen Fördermaßnahmen, sondern der „kindliche Spracherwerb“ hat sich also „als ein überaus effizientes Modell für Sprachförderung“ erwiesen (ebd.). Kinder benötigen vergleichbare authentische Situationen und Interaktionen auch im KiTa-Alltag, um ihr sprachliches Repertoire zu erweitern.
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