Alle Kapitel sind für die Hochschullehre konzipiert, sodass für jeden Themenbereich ein bis zwei Sitzungen verwendet werden können. Wir wünschen den Dozentinnen und Dozenten sowie den Studierenden viel Spaß und interessante Einblicke!
Hildesheim und Köln, im Februar 2019
Elke G. Montanari und Julie A. Panagiotopoulou
A. Wer ist eigentlich mehrsprachig?
Elke G. Montanari & Julie A. Panagiotopoulou
1 Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit
„ In welcher Sprache denkst du, wenn du rechnest?“
„Auf Spanisch.“
„ Und wenn du Notizen während des Unterrichts machst: In welcher Sprache machst du das?“
„Auf Deutsch, aber auf Spanisch auch.“
Ausschnitt aus einem Gespräch mit einer jugendlichen neu zugewanderten Schülerin (Korpus Montanari 2017)
„Also als ich das jetzt gehört habe, fiel mir ein, dass wir in meiner Schulzeit immer zwischen Sprachen geswitcht sind, besonders eben mit Kindern, mit Freunden, die auch beide Sprachen konnten, Deutsch und Türkisch. Da haben wir fast ausschließlich beide Sprachen benutzt, also nie, fast nie, durchgehend eine Sprache, einen Satz in einer Sprache fertig gebracht, würde ich sagen, wenn ich jetzt daran denke.“
(Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Lehramtsstudierenden im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Universität zu Köln (Panagiotopoulou/Rosen 2016a:183))
In deutschen Bildungsinstitutionen sind zahlreiche Bezüge zur Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen zu finden, wie diese Interviewausschnitte aus zwei aktuellen Forschungsprojekten verdeutlichen. Das erste Zitat zeigt, dass neu zugewanderte mehrsprachige Schülerinnen und Schüler ihr gesamtes Sprachenrepertoire beim Lernen nutzen. Das zweite Beispiel wirft ein Licht darauf, wie angehende Lehrkräfte aus zugewanderten Familien zurückblickend ihre Sprachpraxis in ihrer Schulzeit reflektieren, wobei sie angeben, dass sie fast immer mehrsprachig handelten bzw. „fast nie, durchgehend eine Sprache“ benutzten (Panagiotopoulou/Rosen 2016a:185). Mehrsprachigkeit gehört daher zum Alltag der Bildungseinrichtungen dazu. Was zeichnet nun Mehrsprachigkeit aus?
1.1 Individuelle Mehrsprachigkeit im Kontext von Institutionen und Gesellschaft
Mehrsprachigkeit kann auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene beschrieben werden.
Multilingualism conveys the ability of societies, institutions, groups, and individuals to have regular use of more than one language in their everyday lives over space and time. Language is impartially understood as a variety that a group admits to using as a habitual communication.
(Franceschini 2011:346)
Bei der Betrachtung von individueller Mehrsprachigkeitsteht der einzelne Mensch mit den mehrsprachigen Fähigkeiten im Zentrum der Betrachtung. Es werden u.a. Fragen wie die folgenden diskutiert:
Wie wurden die Sprachen angeeignet?
Welche Sprache wählt dieser Mensch für welche Situationen?
Wie beeinflusst die Mehrsprachigkeit andere individuelle Faktoren, z.B. die Intelligenz?
Über den einzelnen Menschen hinaus können Institutionen mehrsprachig sein, z.B. Familien, Bildungseinrichtungen oder andere gesellschaftliche Institutionen. Institutionelle Praktiken werden dann in mehreren Sprachen durchgeführt. Offensichtliche Beispiele für mehrsprachige Institutionen sind zwei- und mehrsprachige Schulen, z.B. die Staatlichen Europaschulen in Berlin oder die Internationalen Kindertagesstätten und Schulen, in denen pädagogische Fachkräfte, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler mehrsprachig sind. Nicht in allen Fällen sind jedoch alle Mitglieder einer mehrsprachigen Institution mehrsprachig bzw. beherrschen alle in der Institution verwendeten Sprachen. Die Europäische Union ist solch eine Institution, in der die Beschäftigten eine, zwei oder drei Sprachen verwenden, innerhalb der Institution aber insgesamt viel mehr, aktuell 24, Amtssprachen gebraucht werden.1 Andererseits können Institutionen einsprachig agieren, auch wenn ihre Mitglieder zu großen Teilen mehrsprachig sind, indem sie die Mehrsprachigkeit der Akteurinnen und Akteure nicht einbeziehen. Die Frage, ob Schulen und Kindertagesstätten mehr- oder einsprachige Institutionen sind, ist Gegenstand der Diskussion.
Auf der Ebene von Gesellschaftenliegt Mehrsprachigkeit vor, wenn neben den lokalen Sprachen, den Sprachen angrenzender Sprachgebiete und den Familiensprachen von Migrantinnen und Migranten weitere überregionale Sprachen gesprochen werden. Beispiele für Regionen mit offizieller gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sind die Schweiz mit Rätoromanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch, Luxemburg mit Luxemburgisch, Deutsch und Französisch oder Südafrika mit elf offiziellen Amtssprachen. Mehrsprachigkeit in Gesellschaften zeigt sich in heteroglossischen, d.h. vielsprachigen, Situationen durch die Verwendung einer Varietät als Standardvarietät und anderer Varianten als Umgangsvarietäten einer (Landes-)Sprache. Das Spektrum kann durch Handelssprachen und Linguae francae, also Verkehrssprachen, noch erweitert werden. Derartige Sprachkonstellationen haben in Europa eine lange Tradition. So wurden sakrale und wissenschaftliche Texte in Latein, Aramäisch, Hebräisch, Arabisch und Griechisch verfasst, während für den alltäglichen Verkehr regionale Sprachen verwendet wurden. In Europa ist erst zwischen 1500 und 1800 ein engagierter Streit darüber geführt worden, ob „vulgäre“, d.h. gewöhnlich gebrauchte, Sprachen wie das moderne Italienisch oder Deutsch als Sprachen der Wissenschaft geeignet seien, oder ob nicht vielmehr die bisherige Wissenschaftssprache Latein weiter benutzt werden müsse (Pörksen 1983). Gegenwärtig sind viele Nationalsprachen und staatenübergreifende Sprachen wie z.B. Arabisch, Englisch, Russisch und Spanisch Wissenschaftssprachen, auch wenn dort, wo die Forschung durchgeführt wird, andere Sprachen gesprochen werden. Gleichzeitig ist zu fragen, inwiefern eine Konzentration auf wenige Wissenschaftssprachen die Vielfalt wissenschaftlicher Ausdrucksformen und somit auch die Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse einschränkt.
Europäische Gesellschaften waren zu vielen Zeiten mehrsprachig und durch Arbeits- und Fluchtmigration sowie durch berufliche und Freizeitmobilität geprägt – und das seit Entstehung der Menschheit. Migration ist also kein junges Phänomen. In urbanen Regionen (Redder 2013), in Grenzregionen und in Regionen mit autochthonen Minderheiten, in Deutschland z.B. mit Friesen, Sinti, Sorben und Roma, ist gesellschaftliche Mehrsprachigkeit stets anzutreffen gewesen. Die Sichtbarkeit, das Prestige und die Akzeptanz waren jedoch durchaus unterschiedlich.
Einige Beispiele für die zahlreichen Migrationsbewegungen, die mehrsprachige Konstellationen in Europa befördert haben, sind die Einwanderung der Hugenotten aus Frankreich nach Deutschland im 17. Jahrhundert, die Arbeitsmigration Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegend um die Ruhr aus dem ehemaligen Königreich Polen, aus Oberschlesien, den Masuren und der Kaschubei sowie die Auswanderung Deutscher nach Russland ab dem 12. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert. Einer einheitlichen Sprache, einer Standardsprache, kam im Wesentlichen erst mit der Entstehung der Nationalstaaten, dem Interesse an breit verständlichen Texten, der Bibelübersetzung Luthers, die durch den damals neu erfundenen Letternbuchdruck eine bis dahin nie gekannte Verbreitung erlangen konnte, und den Bemühungen um ein einheitliches Schulsystem eine neue Bedeutung zu (Ehlich 2001). Die Standardsprache entwickelte sich von einer nützlichen überregionalen Verkehrssprache nun zu einem identitätsstiftenden gesellschaftlichen Element. In diesem Zuge erfuhr die Standardsprache als Konzept eine herausgehobene Interpretation, sollte sie doch eine einsprachige Nationalstaatlichkeit unterstützen (Krumm 2003), was auch als Einsprachigkeitsideologie kritisiert wird, wie das Li Wei (2011) in Anknüpfung an Cook (1992) formuliert.
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